Beim Urnengang in der Türkei am 14. Mai konnte die von Recep Tayyip Erdogan angeführte „Volksallianz“ den Sieg bei den Parlamentswahlen erringen. Für sein Amt als Präsident sollte aber eine Stichwahl nötig werden.
Alle Experten waren sich darüber einig, dass der Ausgang der auf Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan vorgezogenen Parlaments- und Präsidentenwahlen vom 14. Mai eine eminent wichtige Vorentscheidung für die politische Zukunft des Landes sein würde. Ausgerechnet zum anstehenden 100. Jahrestag der Republik sollten die rund 64 Millionen wahlberechtigten Türken im In- und Ausland darüber abstimmen, ob sie bei der Wahl zur 28. Großen Türkischen Nationalversammlung, dem Parlament der Türkei, der AKP von Präsident und Regierungschef Erdoğan wieder zum Sieg verhelfen wollten, wie schon seit dem Jahr 2002 ununterbrochen, und ob sie bei der am gleichen Tag abgehaltenen Präsidentschaftswahl Erdogan im Amt bestätigen wollten – womit sich die seit November 2002 andauernde Ära Erdogan (auf wechselnden Posten als Ministerpräsident und Staatschef) über das 21. Jahr hinaus verlängern würde. Damit wurde auch über den Fortbestand des 2017 per Referendum beschlossenen, seit Sommer 2018 praktizierten und seither beständig ausgebauten Systems der Präsidial-Autokratie entschieden. Für alle politischen Gegner der Präsidentenpartei AKP und ihrer Verbündeten konnte diese Entscheidung weitreichende Konsequenzen haben, denn es war zu erwarten, dass die rechtspopulistische AKP ihren islamisch-konservativen Kurs nach der Wahl noch entschiedener einschlagen würde.
Doch diesmal war der AKP, die mit befreundeten Parteien wie der ultranationalistischen und europafeindlichen MHP an der Spitze das Wahlbündnis „Volksallianz“ geschlossen hatte, ein starker Kontrahent erwachsen: Sechs Oppositionsparteien hatten ein „Bündnis der Nation“ gebildet, das angeführt wurde von der sozialdemokratisch und proeuropäisch-westlich im Sinne des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk ausgerichteten CHP unter ihrem Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu. Der CHP-Chef wurde als größter Konkurrent Erdogans im Kampf um die Präsidentschaft gehandelt. Kiliçdaroğlu und sein „Bündnis“ versprachen den Wählern bei einem Sieg eine Stärkung der demokratischen Struktur des Landes durch Rückbau der präsidialen Allmacht, ein klares Bekenntnis zu westlich-säkularen Werten und außerdem – alldem ziemlich widersprechend, aber wohl nationalistischen Tendenzen geschuldet – eine schnelle Abschiebung der rund vier Millionen vorwiegend aus Syrien stammenden Flüchtlinge.
Der Urnengang vom 14. Mai stand daher unter dem Motto einer politischen Richtungswahl. Die Mehrzahl der Prognosen sagte der Opposition einen Wahlsieg voraus. Allerdings gab es auch eine am 4. Mai durchgeführte Umfrage, die die „Volksallianz“ mit 45,2 Prozent knapp vor dem „Bündnis“ mit 42,7 Prozent sah. Auch in den deutschen Medien wurde mit einem Sieg der Opposition gerechnet. Die „F.A.Z.“ beispielsweise hatte getitelt: „21 Jahre Erdoğan sind genug“, die „Zeit“ hatte Erdoğan bescheinigt, dass er im Land „bei den Wählern so unbeliebt wie nie“ sei.
Hoher Zuspruch aus Deutschland
Doch so gut wie alle Prognosen sollten falsch liegen: Die „Volksallianz“ ging bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 mit 49,46 Prozent als klarer Wahlsieger vor dem lediglich 35,02 Prozent erzielendem „Bündnis“ hervor. Die AKP blieb mit 35,61 Prozent mit Abstand stärkste Partei, die CHP konnte als zweitstärkste Kraft lediglich 25,33 Prozent der Stimmen gewinnen. Zwar war insgesamt gesehen der Abstand zwischen den Regierungsparteien und der Opposition im Vergleich zur vorhergehenden Wahl 2018 etwas kleiner geworden. Doch in der 600 Sitze umfassenden Nationalversammlung – deren Rechte und Zuständigkeiten allerdings durch das präsidiale System, das oft auch als kompetitiver oder elektoraler Autoritarismus bezeichnet wird, mit einer nahezu uneingeschränkten, die Gewaltentrennung quasi aufhebenden Machtfülle Erdogans längst weitgehend eingeschränkt sind – hatte die „Volksallianz“ mit 323 Abgeordneten eine klare Mehrheit vor dem mit 212 Delegierten vertretenen „Bündnis“ erreichen können.
Und doch zeigte die Parlamentsentscheidung mit einer hohen Wahlbeteiligung von rund 87 Prozent die tiefe Spaltung der Türkei in zwei politische Lager. Noch viel deutlicher sollte das bei der Wahl des Präsidenten zum Ausdruck kommen, wo nahezu jeder zweite türkische Wähler Erdogan die Gefolgschaft verweigerte. Erstmals in der Geschichte der Türkei konnte keiner der Kandidaten im ersten Urnengang die vorgeschriebene absolute Mehrheit der Stimmen erringen. Daher musste es zu einer Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten der ersten Abstimmung kommen: Erdogan mit 49,52 Prozent und Kilicdaroglu mit 44,88 Prozent.
Diese fand am 28. Mai statt. Dem Amtsinhaber wurden schon vorab bessere Chancen als seinem Herausforderer eingeräumt. Das Ergebnis bei einer Wahlbeteiligung von 84,2 Prozent fiel denn auch mit 52,18 Prozent zugunsten Erdoğans aus, während 47,82 Prozent der Wähler ihre Stimme zugunsten von Kiliçdaroğlu abgaben. Wieder einmal hatten dabei die in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigten dem Amtsinhaber Erdoğan mit überproportionalen 67 Prozent den Rücken gestärkt.
Wie es die diplomatische Höflichkeit vorschreibt, konnte Erdogan nach seinem doppelten Wahltriumph die Glückwünsche aller hochrangigen westlichen Politiker einheimsen, die sich jedoch schwerlich einverstanden erklären konnten mit seinem gnadenlosen Vorgehen gegen Kritiker, Andersdenkende oder die LGBT-Community sowie mit seinen Militäraktionen in Syrien, den engen Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin oder mit dem türkischen Widerstand gegen den Beitritt Schwedens zur Nato.
Verwunderlich war zudem, wie wenig Einfluss auf den Wahlausgang im Mai die katastrophalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Türkei offenbar hatten: Weder das Versagen behördlicher Stellen bei der Erdbebenkatastrophe vom Februar 2023 noch die galoppierende Inflation, die Wirtschaftskrise, die hohe Arbeitslosigkeit, die gewaltigen Staatsschulden, die fehlende Gewaltenteilung und Pressefreiheit oder die offenkundige Korruption konnten dem Ansehen von Erdogan und seiner AKP so weit schaden, dass der eigentlich überfällige Machtwechsel möglich geworden wäre. Mit seiner bewährten Strategie der Dämonisierung und der beleidigenden Stigmatisierung der Opposition und dem Herumreiten auf dem türkischen Nationalstolz konnte der Präsident den Sieg wieder einmal einfahren.
Nicht einmal seine jeglicher volkswirtschaftlicher Theorie Hohn sprechende Methode, eine hohe Inflation mit niedrigen Zinsen bekämpfen zu wollen, konnte offenbar die Mehrzahl der Wähler von seiner diesbezüglichen Inkompetenz überzeugen.