Anfang April deckten renommierte US-Tageszeitungen auf, dass in diversen sozialen Medien über Monate hinweg Geheimdokumente aus dem Pentagon, vor allem den Ukraine-Krieg betreffend, veröffentlicht wurden. Peinlich für die US-Geheimdienste, die davon ebenso wie die Biden-Regierung völlig überrascht wurden.
Am 13. April brachten sich schwerbewaffnete Agenten des FBI vor einem Haus in dem zum US-Bundesstaat Massachusetts gehörenden Kleinstädtchen Dighton in Stellung. Sie hatten den Auftrag, den Alleinverantwortlichen für eines der größten Geheimdienst-Datenleaks in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu verhaften. Auch wenn die vergleichsweise kleine Zahl der illegal in diversen sozialen Medien veröffentlichten Geheimdokumente, bei denen es sich um von verschiedenen US-Geheimdiensten und sogar vom Oberkommando der US-Streitkräfte erstellte sogenannte Briefings für hochrangige Mitglieder des US-Verteidigungsministeriums Pentagon handelte, nicht annährend an die um ein Vielfaches umfangreicheren Wikileaks-Enthüllungen ab dem Jahr 2007 heranreichte. Wie ein Schwerverbrecher sah der schlaksige, 21 Jahre junge Mann, der nach Aufforderung durch die FBI-Beamten mit hinter seinem Kopf verschränkten Händen in T-Shirt und roter kurzer Sporthose vor das Haus trat, beim besten Willen nicht aus. Aber Gleiches galt natürlich auch für die zahlreichen Whistleblower der jüngsten Vergangenheit mit Julian Assange als ihrem wohl prominentesten Vertreter. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich der verhaftete Jack Douglas Teixeira keinesfalls als Whistleblower verstand und dass er mit seinen Aktivitäten auch nicht die Absicht verfolgte, die nationale Sicherheit der USA zu gefährden. Letztlich dürfte der ihm vorgeworfene Geheimnisverrat auf reiner Angeberei beruht haben.
Aus Angeberei wird Staatsgefährdung
Teixeira war nach seinem Highschool-Abschluss als Anfänger für Cybertransportsysteme in das Nachrichtengeschwader der „Massachusetts Air National Guard“ eingetreten und wurde auf der Otis Air National Guard Base in Cape Cod, einer südöstlich von Massachusetts gelegenen Halbinsel, stationiert. Trotz seiner Beförderung 2022 zum „Airman First Class“ bekleidete er innerhalb des US-Militärs immer noch einen ziemlich niedrigen Rang. Umso verwunderlicher war, dass dieser junge Mitarbeiter, dessen Hauptaufgabe als IT-Fachmann auf dem Militärstützpunkt darin bestand, Computer und Kommunikationssysteme zu verwalten, problemlos an brisanteste und mit dem Vermerk „top secret“ versehene Pentagon-Dokumente herankommen konnte. Und das, obwohl die diesbezüglichen Sicherheitsbestimmungen eigentlich infolge der Wikileaks deutlich verschärft worden waren. Angesichts von Tausenden hochrangiger Pentagon-Beamter, die auf diese Geheimdokumente jederzeit berechtigten Zugriff haben, erwies sich das Sicherheitskonzept aber als offensichtlich nicht ausreichend effizient.
Teixeira war als begeisterter Gamer auf der bei Videospielern überaus beliebten Plattform Discord sehr aktiv und hatte dort 2020 eine geschlossene Chat-Gruppe namens „Thung Skaker Central“ gegründet, der über die gesamte Welt verteilt zwischen zwei Dutzend bis zu 50 Mitglieder angehörten. Teixeira, der als eine Art Administrator der Gruppe aufgetreten war, hatte seinen Mitstreitern von seinem spannenden Job erzählt und angeblich damit geprahlt, dass er selbst hochsensible Dokumente von dort mitgehen lassen könne. Als Beweis dafür hatte er der Gruppe wahrscheinlich schon im Oktober 2022 erste Unterlagen präsentieren können, wobei es sich jedoch nicht um die Originale, sondern lediglich um mühevoll von ihm erstellte handschriftliche Abschriften gehandelt hatte. Nachdem er wochenlang Posts verteilt hatte, deren Inhalt allerdings über die Gruppenmitglieder nicht hinausreichte, wurde ihm das Abschreiben zu anstrengend. Bis dahin hatte man sich auf ein Verbot zur Verwendung von Mobiltelefonen oder anderen elektronischen Geräten geeinigt, mit deren Hilfe Fotos oder Videos von den Dokumenten hätten gemacht werden können.
Nun schmuggelte er Orignaldokumente aus dem Militärquartier heraus, um sie dann in der heimischen Küche mit dem Handy abzufotografieren und schließlich hochzuladen. Damit nahm das Unheil für ihn seinen Anfang, weil ein unbekanntes Gruppenmitglied diese Dokumente – anfangs von ihm völlig unbemerkt – auf anderen Discord-Plattformen zu publizieren begann und damit ab Ende Februar 2023 die intern abgesprochene Geheimhaltung außer Kraft setzte. Die Dokumente wanderten schließlich über ein Youtuber-Fanforum zur Plattform 4chan.org, von wo sie ihr Weg weiter zu Telegram und schließlich zu Twitter führte. Die Mehrzahl der dabei veröffentlichten Geheimpapiere stammten aus den Monaten Februar und März 2023, wobei der Ukraine-Krieg der thematische Schwerpunkt war.
Von Discord über Youtube zu 4chan
Als Teixeira selbst wohl Ende März auf den für ihn verhängnisvollen öffentlichen Geheimnisverrat aufmerksam wurde, war er schon in die Falle getappt. Die Geheimdienst-Fahnder waren ihm durch Rückverfolgung der Posts bis zu den Ursprüngen bei Discord auf die Schliche gekommen und konnten ihm die Täterschaft auch durch versehentlich bei manchen Fotos mit aufgenommene Details seiner heimischen Küche eindeutig nachweisen.
Ab dem 5. April war der Geheimnisverrats-Skandal durch renommierte US-Tageszeitungen mit der „New York Times“ an der Spitze erstmals in der breiten Weltöffentlichkeit bekannt geworden. Die US-Regierung und die US-Geheimdienste waren davon völlig überrascht worden. Dies wurde auch durch die Aussage von Verteidigungsminister Lloyd Austin belegt, wonach er erstmals am 6. April „über die unbefugte Weitergabe von sensiblem und geheimem Material unterrichtet“ worden sei. Während die hauptbetroffene Ukraine die veröffentlichten Dokumente als von Russland gestreute Falschmeldungen apostrophiert hatte, zeigte sich die US-Administration sehr beunruhigt. Präsident Joe Biden äußerte sich sogar öffentlich „besorgt“ darüber.
Der Wahrheitsgehalt und die Echtheit der Unterlagen wurden jedenfalls von US-Regierungsverantwortlichen nicht abgestritten – auch wenn bei einigen brisanten Dokumenten über den Ukraine-Krieg durch Medien wie die „Washington Post“ oder die Investigativ-Plattform „Bellingcat“ eine teilweise Frisierung des Inhalts zugunsten russischer Interessen nachgewiesen werden konnte. Dafür wurden russische Nutzer des Instant-Messaging-Diensts Telegram verantwortlich gemacht. Das Pentagon hatte die Veröffentlichung der Dokumente als ein „sehr ernstes Risiko für die nationale Sicherheit“ bezeichnet und die Urheber richtigerweise in den eigenen Reihen vermutet. Da die US-Tageszeitungen keines der Dokumente im Original veröffentlichten, sondern nur den Inhalt der ihnen vorliegenden oder aus den verschiedenen sozialen Medien herausgefischten Unterlagen referiert hatten, ließ sich nur schwerlich auf ein inhaltliches System oder eine genaue Zahl der veröffentlichten Dokumente schließen.
In den hiesigen Medien wurde meist nur von rund 100 Geheimunterlagen gesprochen, während die „Neue Zürcher Zeitung“ darauf hinwies, dass allein die „Washington Post“ nach eigenen Angaben rund 300 Dokumente sichten konnte. Da auf Anweisung der US-Verantwortlichen die Mehrzahl der veröffentlichten Unterlagen schon im April 2023 aus den sozialen Medien entfernt werden musste, wird sich über den genauen Umfang des Leaks keine Klarheit mehr gewinnen lassen.
Brisante Enthüllungen über Bespitzelungen
Hinsichtlich der Ukraine enthielten die Dokumente für die Monate Februar und März 2023 beispielsweise Informationen über die Waffenlieferungen, zum Munitionsverbrauch, zu Standorten russischer und ukrainischer Truppenverbände, zu Mannschaftsstärken der beiden Kontrahenten, zu Opferzahlen – die allerdings zugunsten Russlands verfälscht worden waren – oder zum Frontverlauf samt exakter Landkarten. Zudem wurden in einem Dokument US-Zweifel am Erfolg einer möglichen ukrainischen Frühjahrs-Offensive erhoben, weil mit dieser nur „eingeschränkte territoriale Gewinne“ erzielt werden könnten.
In einem anderen Schriftstück wurde von „fortdauernden ukrainischen Rückständen“ bei der Ausbildung der Soldaten und der Munitionsversorgung gesprochen. Ohne Nachschub an Munition könne die ukrainische Luftabwehr den russischen Angriffen nicht mehr lange standhalten, zumal auch die Bestände der bislang eingesetzten alten sowjetischen Luftabwehrraketen bis spätestens Anfang Mai 2023 aufgebraucht sein würden.
Daneben gab es aber auch noch Enthüllungen, die aus der Bespitzelung von US-Verbündeten wie Israel, der Türkei oder Südkorea durch die US-Geheimdienste hervorgegangen waren. Außerdem wurde deutlich, dass es den US-Geheimdiensten offenbar bestens gelungen war, Russlands Sicherheitsapparat auszuspionieren. Am schlimmsten dürfte es für die USA allerdings gewesen sein, dass kundige Experten aus den Dokumenten die aktuelle Arbeitsweise der US-Geheimdienste hatten ablesen können, beispielsweise bei der Aufspürung russischer Truppen mittels Satellitentechnologie. Glücklicherweise konnten die US-Verantwortlichen darauf hinweisen, dass in keinem der Briefings etwas über die konkrete US-Strategie in Sachen Ukraine-Krieg aufzufinden gewesen sei.