Am 6. Februar wurden die Südost-Türkei und Nordsyrien von der schlimmsten Naturkatastrophe in dieser Region seit einem Jahrhundert heimgesucht. Die beiden zeitlich kurz aufeinander folgenden Erdbeben der Stärken 7,7 und 7,6 forderten bis zu 60.000 Todesopfer und 125.000 Verletzte. Die Sachschäden beliefen sich auf eine Höhe bis zu rund 120 Milliarden Dollar.
Es war noch tiefe Nacht, nach türkischer Ortszeit exakt 4.17 Uhr, was in Umrechnung auf die mitteleuropäische Zeit 2.17 Uhr entspricht, als ein riesiges Gebiet im Südosten der Türkei und im nördlichen Syrien auf einer Fläche von schätzungsweise mehr als 30.000 Quadratkilometern (die Schweiz ist zum Vergleich rund 41.000 Quadratkilometer groß) von einem gewaltigen Erdbeben mit einer Magnitude von 7,7 auf der Richterskala heimgesucht wurde. In den folgenden Stunden kam es zu zahlreichen Nachbeben, deren Stärken von 4 bis 5 immer noch beträchtlich groß waren. Und schließlich brach um 13.24 Uhr türkischer Ortszeit ein zweites Mega-Erdbeben mit der Stärke 7,6 aus. Laut WHO waren von dieser verheerenden Naturkatastrophe mindestens neun Millionen Menschen direkt betroffen, fast drei Millionen Menschen verloren ihr ganzes Hab und Gut. Die genaue Zahl der Opfer und Verletzten wird sich wohl nie ganz genau ermitteln lassen, Schätzungen gehen von bis zu 60.000 Toten und bis zu 125.000 Verletzten aus. Die Türkei (51.000 Tote) war noch deutlich stärker als Syrien (9.000 Tote) betroffen, für Syrien kann man aber von einer hohen Dunkelziffer an Betroffenen ausgehen.
Über 100 Milliarden US-Dollar Schaden
Was die Schäden an Gebäuden – Taxierungen gehen von mehr 300.000 aus – oder der Infrastruktur betraf, so reichen die Expertenschätzungen bis hin zu rund 120 Milliarden US-Dollar. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen taxierte die Schäden recht vorsichtig auf mehr als 100 Milliarden US-Dollar. Angesichts solcher Zahlen konnten die von der Bundesregierung für das Jahr 2023 zugesagten Hilfen an die Türkei und Syrien in Höhe von 240 Millionen Euro kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein, auch wenn Deutschland damit laut des Auswärtigen Amtes zu den Top drei der wichtigsten Geberländer für die betroffenen Menschen und Regionen zählt.
Das Epizentrum des ersten großen Bebens, ein sogenanntes Flachbeben, lag in vergleichsweise niedriger Tiefe von rund 17,9 Kilometern in der Nähe der türkischen Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Gaziantep, rund 60 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Es riss den Untergrund in einer selten erreichten Länge von rund 400 Kilometern auf. Das Epizentrum des zweiten großen Bebens war rund 95 Kilometer in nordöstlicher Richtung vom ersten Beben entfernt. In der Türkei waren elf Provinzen im Südosten des Landes betroffen, darunter elf fast komplett zerstörte Großstädte. Entlang der syrischen Grenze mit ihren Millionen in Behelfsunterkünften untergebrachten Flüchtlingen des syrischen Bürgerkriegs waren die Auswirkungen der Erdbeben besonders katastrophal, Das galt auch für die hauptbetroffenen syrischen Regionen um Aleppo, Idlib und Raqqa. Aufgrund der angespannten politischen Situation konnten die sogleich nach dem Ausbruch der Naturkatastrophen eingeleiteten internationalen Hilfsmaßnahmen in diesen Regionen nur in völlig unzureichendem Maße Eingang finden.
Schon bald war von einem „Jahrhundertbeben“ die Rede, und es kam zu einer national in der Türkei wie auch auf internationaler Ebene geführten Diskussion um eine ganze Kette möglicher Versäumnisse hinsichtlich erdbebensicherer Städteplanungen und Bauaufsicht. Denn die riesige Zahl an Gebäudeschäden ließ sich nicht allein auf die Stärke der Erdbeben zurückführen. Zudem wurde bekannt, dass die nationale türkische Katastrophenbehörde AFAD schon seit Jahren auf gravierende Probleme des Baugrunds und des Zustands vieler Gebäude aufmerksam gemacht hatte. Die AFAD, die konkrete „Pläne zur Minimierung der Katastrophenrisiken“ veröffentlichte und dabei vor der möglichen Gefahr eines schweren Erdbebens mit der Stärke 7,5 in der am 6. Februar 2023 tatsächlich schwer betroffenen Stadt Kahramanmaras mit ihren 650.000 Einwohnern gewarnt hatte, fand allerdings keinerlei Gehör. Dafür wurde auch der türkische Korruptions-Dschungel mit mangelhafter Verantwortung bei Baugenehmigungen oder der Umsetzung der Bauvorschriften auf kommunaler Ebene verantwortlich gemacht. Die türkische Architektenkammer TMMOB wies der Regierung eine große Mitschuld am Ausmaß der Katastrophe zu, denn die Verantwortlichen hatten Tausende ungenehmigter Bauten im Nachhinein einfach legalisiert.
Doch neben den mangelhaften Katastrophen-Vorsorgemaßnahmen gibt es ein noch weitaus bedeutenderes Problem, wodurch die Türkei gewissermaßen als ein weltweiter Erdbeben-Hotspot gilt: Die Türkei ist auf einer tektonischen Hochrisikozone gelegen, in der gleich mehrere tektonische Platten aufeinanderstoßen. Dazu muss man wissen, dass die beiden Hauptakteure, die Afrikanische Platte im Südwesten und die Europäische Platte im Norden des Landes sind. Dazwischen ist die anatolische Platte, auf der der Großteil der türkischen Landfläche liegt, gewissermaßen eingeklemmt.
Lage in tektonischer Hochrisikozone
Das Hauptproblem für die Türkei ist ein kleineres Fragment der Afrikanischen Platte namens Arabische Platte, die relativ schnell mit etwa zwei Zentimetern pro Jahr in nördlicher Richtung wandert und dabei die Anatolische Platte gegen die Eurasische Platte schiebt. An den Berührungslinien dieser Platten entstehen tektonische Verwerfungszonen oder Transformstörungen genannte Bruchkanten, in denen sich die Gesteinsmassen tief im Boden ineinander verkeilen und dabei über Jahrzehnte eine immer höhere Spannung aufbauen, die sich dann irgendwann in einer großen Eruption und einem Aufreißen des Untergrunds entlädt. In der Türkei gibt es gleich zwei dieser Transformstörungen: die nordanatolische und die ostanatolische Verwerfung.
Die Mehrzahl der bislang in der Türkei entstandenen Erdbeben ist im Umfeld der nordanatolischen Verwerfung, die von der Grenze des Irans bis nach Istanbul reicht, aufgetreten, darunter das Beben vom August 1999 rund um Gölcük (Stärke 7,6) mit mehr als 17.000 Todesopfern oder das Erdbeben von Erzincan im Dezember 1939 (Stärke 7,8) mit 33.000 Toten. Experten warnen daher schon seit Jahren vor einer verheerenden Erdbeben-Katastrophe in der dicht besiedelten Metropole Istanbul.
Im Umfeld der ostanatolischen Verwerfung war es dagegen fast 900 Jahre lang ruhig geblieben, „wissenschaftlich gesehen für die Geodynamik zu ruhig“, wie die Geophysikerin Charlotte Krawcyk vom Potsdamer Deutschen Geoforschungszentrum gegenüber der „Tagesschau“ mitteilte. Am 6. Februar 2023 war es mit der Ruhe dann erst einmal vorbei …