Es war die bislang letzte große Protestkundgebung, die auch von gewaltsamen Ausschreitungen begleitet wurde. Tausende Klima-Aktivisten demonstrierten am 14. Januar gegen die Räumung des rheinischen Dörfchens Lützerath. Dort soll stattdessen Braunkohle innerhalb des RWE-Projekts Garzweiler II abgebaut werden.
Das Schicksal von Lützerath war letztendlich schon Anfang Oktober 2022 besiegelt worden. Die Geschichte des kleinen, zur rheinischen Stadt Erkelenz gehörenden Weilers lässt sich bis ins Jahr 1168 zurückverfolgen, die Einwohnerzahl hatte niemals mehr als 105 betragen. Zu diesem Zeitpunkt hatte mit dem Landwirt Eckardt Heukamp der letzte Bürger das Dörfchen bereits verlassen. Alle übrigen Bewohner Lützeraths waren schon seit 2006 umgesiedelt worden – um dem Energiekonzern RWE nach dem Abriss des Weilers die Förderung der darunter liegenden Braunkohle im Rahmen des gigantischen Projekts Garzweiler II zu ermöglichen.
Proteste bereits seit 2020
Gegen die Zerstörung des Dorfes und das Fortschreiten der klimaschädlichen Kohleförderung hatte sich seit 2020 ein Bündnis aus verschiedenen Umwelt- und Klimaschutz-Organisationen gebildet. Deren engagierteste Vertreter hatten sich zu einer Besetzung der leerstehenden Häuser entschlossen, um das scheinbar Unvermeidliche in letzter Sekunde vielleicht doch noch verhindern zu können. Doch Anfang Oktober 2022 wurden den Protestierenden jegliche Hoffnungen entzogen nach einer Einigung, die RWE ausgerechnet mit dem grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und der grünen nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerin Mona Neubaur erzielen konnte. Am Düsseldorfer Verhandlungstisch wurde ein sogenannter Kohle-Kompromiss beschlossen, der vorsah, die Braunkohle unter Lützerath noch abbaggern zu lassen, um in der Energiekrise genügend Strom produzieren zu können. Im Gegenzug wurde der Ausstieg im Rheinischen Braunkohlerevier von 2038 auf 2030 vorgezogen und zusätzlich der Verzicht auf die Förderung von Braunkohle unter fünf Dörfern bekanntgegeben, die dadurch erhalten bleiben sollten: Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich, Unterwestrich und Berverath.
Das NRW-Landesinnenministerium hatte Ende November 2022 die Räumung Lützeraths für Anfang Januar 2023 angekündigt, der Kreis Heinsberg Ende Dezember 2022 das Betreten des Weilers und den Aufenthalt daselbst untersagt. Trotzdem bereiteten sich die schätzungsweise 300 bis 700 Aktivisten in Lützerath durch den Bau von nur schwer erreichbaren Baumhütten und die Erstellung von Barrikaden auf den Zufahrtsstraßen auf den bevorstehenden Sturm durch die Polizei vor.
In der ersten Januarwoche kam es im Laufe vorbereitender Räumungsmaßnahmen, unter anderem bei der Entfernung der Barrikaden, zu ersten Zusammenstößen mit den Ordnungskräften. Am 8. Januar 2023 verlief eine als „Dorfspaziergang“ bezeichnete Protestaktion mit rund 2.000 Teilnehmern friedlich. Am Morgen des 11. Januar 2023 riegelte die Polizei den Zugang zu Lützerath weiträumig ab und begann, mit mehreren Hundertschaften in die Ortsmitte vorzurücken. Das war der Startschuss zur Räumung des Weilers. Einen Tag später versuchte die Initiative Scientists for Future in einem offenen Brief an NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst die Abbaggerung von Lützerath mit einem Moratorium zu stoppen, das innerhalb von 24 Stunden von mehr als 500 Wissenschaftlern unterschrieben wurde. Wüst ließ sich dadurch allerdings nicht umstimmen: „Wir haben ja die Debatten alle geführt. In einem Rechtsstaat ist an einem bestimmten Punkt eine Sache auch entschieden.“
Am Abend des 12. Januar 2023 war die Räumung der oberirdischen Strukturen in Lützerath weitestgehend abgeschlossen, Probleme bereitete nur noch ein Tunnel unter einer Zufahrtsstraße, weil sich dort einige Aktivisten eingenistet und angekündigt hatten, sich zur Verzögerung der Räumungsaktion anketten zu wollen. Laut Behördenangaben hatte ein Großteil der Aktivisten, etwa 320 Personen, Lützerath bereits verlassen, wobei es „im Rahmen von Widerstandshandlungen“ zu einigen Verletzten gekommen sei und gegen 124 Aktivisten Strafanzeigen wegen Landfriedensbruch sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt erlassen worden seien.
Von daher konnte die von mehreren Umwelt- und Naturschutzorganisationen sowie lokalen Initiativen unter dem Motto „Auf nach Lützerath! Gegen die Räumung – für Kohleausstieg & Klimagerechtigkeit“ für den 14. Januar 2023 einberufene Großdemonstration eigentlich nur noch symbolischen Wert haben. Als Veranstaltungsort war ein Feld zwischen den Ortschaften Holzweiler und Keyenberg genehmigt, abseits dieser Fläche ein Betretungsverbot erlassen worden. Die Behörden hatten vorab mit 8.000 Teilnehmern gerechnet. Doch sie wurden trotz Windböen und Dauerregen, der das Feld in eine Schlammwüste verwandelte, von der Masse an Protestierenden heillos überrascht. Die Polizei sprach von 15.000 Teilnehmern, die Veranstalter von 35.000 bis 50.000 Demonstranten, die sich ab 12 Uhr versammelt hatten.
Wasserwerfer und Schlagstöcke
Ein Großteil der Protestierenden hielt sich an die Vorgaben und folgte dem Demonstrationszug auf dem festgelegtem Pfad zu einer hinter Keyenberg installierten Tribüne, auf der prominente Umwelt-Aktivistinnen wie Greta Thunberg Ansprachen hielten. Es gab jedoch auch viele Demonstranten – die Polizei sprach von etwa 5.000 Personen, von denen die meisten vermummt gewesen seien –, die sich absetzten und illegal bis zur Abrisskante des Tagebaus vordrangen oder versuchten, in das durch Zäune abgeriegelte Lützerath zu gelangen. Dabei kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften, die unter Berufung auf einen „unmittelbaren Zwang“ Wasserwerfer, Schilde, Schlagstöcke, Pfefferspray und Hunde einsetzten und von ihren Kontrahenten neben Steinen und Schlamm vor allem mit Pyrotechnik attackiert wurden, durch die auch Einsatzwagen beschädigt wurden.
Nach Angaben der Behörden mussten neun Aktivisten mit Rettungswagen in Krankenhäuser transportiert werden. Die Zahl der verletzten Polizisten seit Beginn des Räumungseinsatzes wurde mit 102 verlautbart, wobei die Dienstunfähigkeit einiger Beamter allerdings den „örtlichen Gegebenheiten“ geschuldet gewesen sei. Den Vorwurf einer unverhältnismäßigen Gewaltanwendung durch die Polizisten sollte NRW-Innenminister Herbert Reul scharf zurückweisen.
Am 15. Januar 2023 war die Räumung Lützeraths abgeschlossen, einen Tag später verließen die letzten beiden Aktivisten die Tunnelanlage. Der RWE-Konzern, der sich zivilrechtliche Schritte mit Schadenersatzforderungen gegen die von ihm als „Störer“ deklarierten Demonstranten vorbehalten hatte, ließ mitteilen, dass der Rückbau von Lützerath noch acht bis zehn Tage dauern werde und man schon im März/April 2023 mit dem Kohleabbau unter dem früheren Weiler beginnen wolle.