Seit Monaten toben Demonstranten auf den Straßen Frankreichs. Macrons Rentenreform erhitzt die Gemüter. Dass er sie am Ende doch im zweiten Anlauf durchboxen kann, wird dem französischen Staatsoberhaupt fast zum Verhängnis.
Wasserwerfer, Tränengas, brennende Autos, eingeworfene Fensterscheiben, besetzte Raffinerien und Tankstellen ohne Sprit, bestreikte Züge, U-Bahnen und Flughäfen, aufgetürmte Müllberge, verletzte Polizisten und jede Menge Festnahmen. Im März 2023 war das öffentliche Leben in unserem Nachbarland Frankreich streikbedingt wieder einmal weitestgehend lahmgelegt. Der Grund dieses Mal: die umstrittene Rentenreform oder in anderen Worten ausgedrückt die schrittweise Heraufsetzung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre sowie die Abschaffung zahlreicher Sonderprivilegien einzelner Berufsgruppen.
Mit spontanen Demonstrationen, wilden Streiks und wütenden Protesten, angestachelt von Gewerkschaften und Oppositionsparteien, haben die Franzosen wochenlang ihrem Unmut gegen die geplante Rentenreform Luft gemacht. Sie gilt als eines der wichtigsten Reformvorhaben des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Im März erreichte die Protestwelle vorläufig ihren Höhepunkt.
Hatte Macron in seiner ersten Amtszeit aufgrund der Gelbwesten-Bewegung und der Corona-Krise das heiße Eisen Rente nochmals auf die lange Bank geschoben, brachte er das Reformpaket zu Beginn seiner zweiten Amtszeit wieder auf die politische Agenda, wohlwissend, dass dieses Thema die französische Volksseele erneut zum Kochen bringen würde. Schon seine Vorgänger im Präsidentenamt hatten sich am Thema Rente die Finger verbrannt und letztendlich immer davon abgelassen. Aber der beim französischen Wahlvolk inzwischen sehr unbeliebte Macron darf laut Verfassung bei den kommenden Präsidentschaftswahlen 2027 eh nicht mehr antreten und hat die Reform im zweiten Anlauf ohne Rücksicht auf Verluste und Beliebtheitswerte durchgedrückt.
„Durchprügeln“ durch die Nationalversammlung musste diese Reform allerdings die Regierung um Premierministerin Élisabeth Borne. Aufgrund der fehlenden absoluten Mehrheit nutzte die Regierung einen Sonderartikel der Verfassung, der dieses höchst umstrittene Reformwerk in einem Haushaltstext unterbringen kann ohne große Diskussionen, verkürzte Debattenzeit und vor allem ohne Abstimmung im Parlament. Die Straßen brannten, die Volksseele kochte, die Oppositionsparteien schäumten und brachten zwei Misstrauensvoten gegen die Regierung auf den Weg. Beide scheiterten, wobei das eingebrachte Votum des rechtsextremen Rassemblement National von vornherein keine Chance hatte. Aber beim Misstrauensvotum der kleinen Zentrumspartei Liot war es erdenklich knapp: Lediglich neun Stimmen fehlten, um die Regierung zu stürzen.
Selbst die konservative Partei Les Républicains, die eigentlich für eine Rentenreform ist, wollte das Vorhaben im Vorfeld so nicht unterstützen, weshalb die französische Regierung zu diesem „Verfassungstrick“ griff, um die Reform letztlich durchzusetzen. Zu groß das Risiko für die Regierung, eine Niederlage bei der regulären Abstimmung in der Nationalversammlung zu erleiden. Denn ein Scheitern der Rentenreform hätte auch dem Präsidenten massiv geschadet. So blieb nur der Protest auf der Straße. Der gewiefte Taktiker Macron spielte auf Zeit. Trotz Anrufens des Verfassungsrats durch linke und rechte Oppositionsparteien zur Überprüfung der Verfassungskonformität dieses Gesetzes nahm er den Streikenden regelrecht den Wind aus den Segeln. Fast alle rechneten mit einem Austausch der Premierministerin Borne. Die Protestbewegungen nahmen ab, die Sommerpause nahte und mit der „rentrée“ Anfang September trat die Rentenreform relativ geräuschlos in Kraft. Und Élisabeth Borne ist immer noch im Amt.
43 Jahre Beiträge zahlen
Die Franzosen müssen nun ab Januar 2024 länger arbeiten. Das gesetzliche Renteneintrittsalter von derzeit 62 Jahren wird schrittweise auf 64 Jahre angehoben und zwar pro Geburtsjahr um drei Monate beginnend ab Jahrgang 1. September 1961. 2030 sollen die Rentenkassen ausgeglichen sein. An den Rentenbeiträgen wird dagegen bisher nicht geschraubt, das heißt ein Arbeitnehmer im Privatsektor zahlt 10,5 Prozent seines Bruttogehalts in die Rentenversicherung, der Arbeitgeber legt nochmals 13 Prozent drauf. Es gibt also keine paritätische Aufteilung wie in Deutschland, dagegen fließen aber auch Steuermittel wie hierzulande in die Rentenversicherung. Die Mindestrente soll auf rund 1.200 Euro hochgesetzt werden.
Das Problem in Frankreich besteht darin, dass es zuviele Sonderprivilegien der 42 unterschiedlichen Rentenkassen je nach Berufsgruppe gibt. Manche dieser „régimes spéciaux“, zum Beispiel bei den französischen Eisenbahnen, den Pariser Verkehrsbetrieben oder bei den staatlichen Energieversorgern EDF oder GDF, ermöglichen einen deutlich früheren Eintritt ins Rentenalter ohne große Abzüge. Diese Vereinbarungen gelten mit der Rentenreform nun nicht mehr für Neueinstellungen. Wer in Frankreich eine abschlagsfreie Rente beziehen möchte, muss 42 Jahre oder künftig eben 43 Jahre Beiträge zahlen, um volle Rentenansprüche zu haben. Das Grundprinzip besteht wie in Deutschland auch aus dem Umlageverfahren allerdings mit einem deutlich höheren Rentenniveau. Wer durchschnittlich verdient hat, erhält rund drei Viertel seines früheren Nettoeinkommens, deutlich mehr als der OECD-Durchschnitt.
Der Anteil der Menschen, die in Frankreich zwischen 55 und 64 Jahren noch arbeiten, beträgt rund 56 Prozent, in Deutschland sind es 72 Prozent. Dass das Rentensystem ungerecht sei und grundsätzlich geändert werden müsse, vertritt in Frankreich übrigens die Mehrheit der Bevölkerung. Und trotzdem hat sich der Protest der Franzosen an der Rentenreform entzündet. Unzufriedenheit mit der politischen Kaste äußert sich in Frankreich immer wieder gern in spontanen Protesten und teils gewaltsamen Massenprotesten in den großen Städten, allen voran in Paris. In Deutschland reibt man sich verwundert die Augen.