Genau 74 Jahre musste die Formel 1 alt werden, um sich mit einer einzigartigen „One-Man-Show“ in den Geschichtsbüchern zu verewigen. 2023 war das Jahr des Red-Bull-Überfliegers Max Verstappen. FORUM blickt zurück auf Gewinner und Verlierer einer außergewöhnlichen Saison.
Eigentlich müsste sich dieser Rückblick auf die Formel 1-Saison 2023 auf nur einen Fahrer und ein Team konzentrieren. Max Verstappen und Red Bull waren das Nonplusultra in der Königsklasse des Motorsports. Diese Symbiose degradierte den Rest des Feldes zu Statisten. Man kann es drehen, wie man will, das Jahr 2023 war eine F1-Saison wie keine andere zuvor in sieben Jahrzehnten.
Verstappen ist der neue Gigant, Dominator und Regent der Formel 1. Ein 26-Jähriger aus den Niederlanden, in Katar sechs Rennen vor Saisonende zum dritten Mal in Folge Weltmeister geworden, hat eine Saison hingelegt wie kein Champion vor ihm. Die Liste der F1-Rennfahrer umfasst 781 Piloten, 34 wurden ein oder mehrmals Weltmeister, unter ihnen so bekannte Namen wie Fangio, Stewart, Fittipaldi, Lauda, Senna, Schumacher und Vettel. „Namen sind Schall und Rauch“ heißt es in Goethes Faust I. Die Redewendung bedeutet: Schall als auch Rauch sind nichts Fassbares, sondern nur etwas Vorübergehendes, ein Umstand, der vergänglich oder bedeutungslos ist.
Immer neue Rekorde
Der Superbulle aber widerlegt des Dichters geflügelte Worte, denn: Der Name Max Verstappen steht für einen der größten und erfolgreichsten Rennfahrer aller Zeiten und ist ein Donnerhall, der auch noch in 30 oder 40 Jahren in der F1-Welt einen einzigartigen Klang haben wird.
Als hätten Papa Jos Verstappen und seine Frau Sophie bei ihrem Erstgeborenem schon eine Vorahnung gehabt, was die Namensgebung betrifft. „Ich war schon dran, einen starken Namen auszusuchen, und wir waren uns einig, ihn Max zu nennen“, so der Vater in einem Interview bei Sky und liefert auch gleich die Erklärung: „Max ist abgeleitet vom lateinischen Maximus und bedeutet der Größte.“ Dazu bemerkte die niederländische Tageszeitung De Volkskrant: „Vater Jos und Mutter Sophie wählten für ihren Jungen den perfekten Namen. Max. Maximal. Es war eine Namensgebung mit Vorbedacht für den Allesfresser und die Allmacht der Formel 1.“
Im Jahr 1997, als Max Verstappen am 30. September geboren wurde, ahnte noch keiner, dass der „stramme Max“ 26 Jahre später seinem Namen alle Ehre machen würde. 2023 hat sich der Überflieger bei seiner zweiten Titelverteidigung in Folge selbst übertroffen und zahlreiche Rekorde aufgestellt oder niedergerissen. Rekorde, Siege, Höchstwerte, Superlative, Dominanz – Verstappen hat mit seinem Bullen-Boliden die beste Saison eines F1-Fahrers hingelegt. Ein Blick in die Liste seiner Höchstleistungen offenbart: 19 von 22 Rennen gewonnen und damit seinen eigenen Rekord aus dem Vorjahr (15) gebrochen. 21 Mal war er auf dem Podium vertreten, nur der Ausrutscher als Fünfter in Singapur verhinderte die totalen Podiumsauftritte. Von Miami Anfang Mai bis einschließlich Monza Anfang September gewann der „fliegende Niederländer“ gleich zehn Rennen in Folge. Bei der WM-Punktevergabe heimste er 575 von 620 möglichen Zählern (92,7 Prozent) ein. Mit 290 Punkten verzeichnete er den größten Vorsprung auf den WM-Zweiten, seinen Stallgefährten Sergio Perez. Mit seiner Ausbeute hätte Verstappen im Alleingang die Konstrukteurs- und Fahrer-WM holen können. Außerdem hat die Rennmaschine „Magic Max“ 1003 Führungsrunden (von 1383) absolviert. Als einziger Fahrer im Feld beendete Verstappen alle Runden der 22 Rennen ohne technische Defekte. Mit seinem 54. Karriereerfolg beim Finale in Abu Dhabi hat er auch Sebastian Vettel (53) überholt. Nur Hamilton (103) und Schumacher (91) hat er noch vor seiner Brust. Sein Abu Dhabi-Triumph war sein insgesamt elfter Hattrick bestehend aus der Pole-Position, Sieg und schnellster Runde, gleichzeitig der sechste in dieser Saison. Schumacher führt diese Liste mit 22 Hattricks vor Hamilton (19) an. Bei all diesen Erfolgen fällt es selbst Red Bulls Motorsportchef Dr. Helmut Marko schwer, die Triumphfahrten und niedergerissenen Rekorde seines Chefpiloten zu begreifen. „Es ist etwas, was wir uns nie erhofft oder erträumt hatten. Die Saison 2023 hat alles getoppt, was wir bisher erreicht hatten“, so der Österreicher bei Sky-TV. Was seinen Superstar Max Verstappen betrifft, so kam der 80-jährige Doktor der Rechtswissenschaften zu der Erkenntnis, dass „er einen absoluten Siegeswillen hat und in jeder Situation ans Limit geht. Das macht er mit einer Souveränität und Leichtigkeit.“ Und der „Ösi“ aus Graz in der Steiermark ist sich sicher: „Max ist noch nicht auf seinem Zenit, den haben wir noch nicht gesehen.“
Selbst die Macher sind überrascht
Dass Max ein herausragendes Fahrtalent ist, das hat Ex-F1-Fahrer Christian Danner schon in dessen jungen Jahren erkannt. „Dass sich aber ein junger Rennfahrer mit seinem Team auf diese Höhen entwickeln kann, ist schon eine Überraschung gewesen“, so der F1-Experte beim Bullen-Sender Servus TV. Fazit des Bayern: „Die Formel 1 steht gerade am Beginn der Verstappen-Ära, denn da passt alles zusammen.“
Für Felipe Massa, Ex-Teamkollege von Schumi und Ferrari-Vizeweltmeister 2008, ist „Verstappen der Schumacher seiner Zeit. Fahrer wie Michael oder Max gibt es maximal einen pro Generation“, so der Brasilianer gegenüber Sport Bild. „Solche Fahrer haben eine natürliche Gabe. Ihr Fahrgefühl ist in ihrem Blut stärker ausgeprägt als bei dem Rest“, so die Erkenntnis des elfmaligen F1-Siegers. Verstappens Abgezocktheit ist jene Eigenschaft, die Massa besonders beeindruckt. „Max ist trotz seiner erst 26 Jahre schon ein alter Hase“, stellt der 42-Jährige fest.
Für den früheren Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug steht fest, dass „Max die besten Schumacher-Dominanz-Zeiten getoppt hat. Das gab es noch nie“, ordnet der Schwabe die Verstappen-Rekordsaison bei RTL/ntv und sport.de ein. Der 71-jährige Journalist vermutet, dass die Bestmarken Verstappens in Stein gemeißelt sind. „Max hat 2023 eine Richtschnur aufgezogen, die vermutlich nicht mehr übersprungen wird“, glaubt Haug.
Und wie sieht der so in höchsten Tönen Gelobte seine zurückliegende Saison? „Es war eine unvergessliche Saison. Ich muss mich bei allen bei Red Bull bedanken, wir hatten ein unglaubliches Jahr. Es wird schwer sein, ein Jahr wie die vergangene Saison zu wiederholen, aber wir wollen immer besser werden.“
Wo Gewinner sind, sind auch Verlierer unterwegs. Es klingt hart, aber trotz seines Vize-Titels gehört Perez (33) zu ihnen. Der Mexikaner saß im mit Abstand besten Boliden, sein Bullen-Stall machte die konstantesten Boxenstopps und kaum strategische Fehler. „Checo“ wurde aber vom Stallkollegen Verstappen in den Rennen (21:2) und auf der Zeitenjagd im Qualifying (20:2) abgekocht, ausgeknockt und mit 290 Punkten Rückstand auf WM-Platz zwei „degradiert“. Im WM-Team ist der 33-Jährige angeschlagen, startet 2024 auf Bewährung. Sein Vertrag läuft Ende 2024 aus.
Kann sich Verstappen weiter steigern?
Zu den Verlierern zählt das britische Boulevardblatt Daily Mail das einst erfolgsverwöhnte Mercedes-Team. Knallhart schreibt es: „Es war eine Saison, die für die Silberpfeile in den Mülleimer der Geschichte wandert.“ Star-Pilot Lewis Hamilton (36) ist seit dem Saudi Arabien-GP in Dschiddah 2021 ohne Sieg. Im Klartext: Seit 46 Rennen hat der Siebenfach-Champion eine Dürrephase, liegt in den Jahren 2022 und 2023 erstmals auf dem Trockenen. In der WM hat sich der Brite aber noch auf Rang drei vor Aston Martin-Pilot Fernando Alonso (234:206 Punkte) eingenistet. Als Best-of-the-Rest im angeschlagenen Mercedes ein Gewinner. Einen Seitenhieb auf Verstappen konnte sich Hamilton aber nicht verkneifen: „Mir würde es nichts geben, wenn ich einfach in das dominanteste Auto aller Zeiten steige und gewinnen würde“. Der Unterton, der dabei mitschwingt, ist eindeutig, heißt: Siege mit diesem derart überlegenen Auto sind weniger wert, als jahrelange Aufbauarbeit zu leisten. Anscheinend hat Sir Lewis Carl Davidson Hamilton vergessen, dass er bei seinem Wechsel zu Mercedes seit 2013 bei seinen 82 Siegen für das Stern-Team ebenfalls über Jahre hinweg das beste, schnellste und zuverlässigste Auto lenkte. Den letzten der 116 F1-Siege für Mercedes bescherte George Russell (25) dem schwäbisch-britischen Rennstall 2021 mit seinem F1-Premierenerfolg beim GP von Brasilien. Mit seinem dritten Platz im Abu Dhabi-Finale 2023 reichte es hauchdünn, Mercedes Rang zwei vor Ferrari (409:406) in der Marken-Wertung und einen willkommenen Geldregen zu sichern. Der Unterschied zwischen dem Zweiten und Dritten beträgt immerhin acht Millionen Dollar. In seinem ersten Mercedes-Jahr 2022 noch WM-Vierter, ist Russell 2023 auf Rang acht abgerutscht. Kein Sieg, keine Pole-Position, zu viele unnötige und ungewohnte Fehler, dazu die stallinterne Pleite gegen Hamilton (234:175 Punkte) – Russell ein Verlierer.
Genauso wie Ferrari. Den bislang letzten Titel der Roten stellte Kimi Räikkönen 2007 sicher. Der 2020 von Sauber zu Ferrari zugestoßene „Heilsbringer“ und „Ferrari-Kronprinz“ Charles Leclerc (26) startete 2023 fünfmal von der Pole-Position, konnte seinen ersten Startplatz aber nicht zu einem Sieg „dekorieren“. Bei vier Ausfällen und einer Disqualifikation waren oft Pech, aber auch eigene Fehler, mit denen der gescheiterte Verstappen-Herausforderer nur WM-Fünfter wurde (2022 noch WM-Zweiter) verantwortlich.
Ferrari wartet seit 2007 auf den Titel
Teamkollege Carlos Sainz (29) hatte gegenüber dem Monegassen im Duell der Quali-Zeitenjagd (7:15) zwar das Nachsehen, durchbrach aber im Nachtspektakel von Singapur die Red Bull-Dominanz von 15 Siegen und holte den einzigen GP-Triumph 2023 für den roten Traditionsrennstall. Matador Carlos ist von Platz fünf in 2022 auf Rang sieben abgerutscht. Fazit: Das Cavallino Rampante hoppelte den Ansprüchen in Maranello hinterher.
Sainz’ Landsmann Fernando Alonso war als WM-Vierter mit 206 Punkten und acht Podestplätzen die große Überraschung. Der „alte“ Mann und das „Mehr“. Oder Oldie but Goldie.
Was der Spanier mit seinen 42 Jahren im Aston Martin ablieferte, war ganz großer Sport. Seine Podestplätze belegen eine beispiellose Konstanz. Seinen Teamkollegen Lance Stroll (25) hatte der F1-Methusalem im jugendlichen Boyclub in den Quali-Duellen (19:3) und in den Rennen jederzeit im Griff. Unvergessen sein Überholmanöver gegen Perez in der Schlussphase des GP Brasilien. Alonso lag auf Platz drei, der Mexikaner krallte sich den Spanier, der wiederum konterte weltmeisterlich, holte sich Rang drei zurück (sein 106. Podestplatz) und kam mit dem Vorsprung von 53 Tausendstelsekunden ins Ziel. Das Autodrom tobte. Für dieses beste Überholmanöver des Jahres wurde Matador Alonso mit einem Preis ausgezeichnet. Seine Leistung stuft der 32-malige GP-Sieger und zweifache Weltmeister (2005/2006 Renault) so ein: „2023 war meine beste F1-Saison, auf gleichem Niveau wie 2012 mit Ferrari.“
Zu den Gewinnern zählt auch das Team McLaren. Lando Norris (24), der mit mehreren zweiten Plätzen glänzte, und Rookie Oscar Piastri (22) hingen öfter als „Verfolger“ an den Bullen. Das Duo raste neunmal aufs Podium. Williams-Pilot Alex Albon (27) hat sein Team vom letzten Platz im Jahr 2022 auf WM-Rang sieben katapultiert vor AlphaTauri und Alfa-Sauber, die wie das Team Alpine zu den Verlierern gehören.
Die rote Laterne hat das Haas-Team. Sein Fahrer Nico Hülkenberg (36) brillierte in dem chronisch unterlegenen Auto vor allem im Qualifying. Stehaufmännchen „Hulk“ schlug Teamkollegen Kevin Magnussen (31) im Quali (15:7), in Rennen und Punkten (9:3). Der WM-16. und Nachfolger des geschassten Mick Schumacher empfahl sich für ein weiteres Jahr.
In der nächsten Saison werden alle zehn Teams erstmals mit der gleichen Fahrerpaarung am Start sein.