Wie ein Taifun fegte Überflieger Max Verstappen durch die Saison 2023 zu seinem dritten WM-Titel, mähte eine Bestmarke nach der anderen nieder. FORUM blickt zurück auf sein Team Red Bull, das als Party-Truppe in die Formel 1 kam, die Rennboliden aber zu siegeswütigen Bullen dressierte.
Als der Rennstall eines Getränkeherstellers namens Red Bull 2005 die Königsklasse des Motorsports, die Formel 1, bereicherte, wurde er nur belächelt. Doch den bis dahin erfolgsverwöhnten etablierten Teams verging nach und nach Lächeln und Lachen. Nur fünf Jahre später, 2010, gewann der als Hummer kochende Party-Truppe verschriene Rennstall im Haifischbecken Formel 1 ihre erste Weltmeisterschaft mit Sebastian Vettel. Mit Teamkollege Mark Webber sicherte das Fahrer-Duo zudem die Konstrukteurs-WM. Der damals 23-jährige junge Hesse aus Heppenheim bescherte seinem „Brause-Team“ in Folge noch drei weitere WM-Titel. Die Puristen waren schockiert. Nicht aber Bullen-Teamchef Christian Horner. Stolz verkündete der Brite: „In sechs Jahren schafften wir es als Team, das niemand ernst nahm, das den Ruf eines Party-Teams hatte, zum Konstrukteurs-Weltmeister. Wir haben vor Teams gewonnen, die unglaublich mehr Erfahrung und Tradition hatten. Wir haben es mit ihnen aufgenommen und gewonnen.“
Zuerst nicht ernst genommen
In den vergangenen drei Jahren, von 2021 bis 2023, kamen mit Max Verstappen (26) im Bullen-Biest drei weitere Titel in der Fahrer-WM hinzu. Stallkollege Sergio Perez (34, Mexiko) verhalf zum sechsten Triumph in der Konstrukteurs-WM. Red Bull erreichte einen Grad an Perfektion, der die Formel 1 in eine tiefe Depression stürzte. Weder die Rennmaschine „Magic Max“ noch sein Team mussten jemals den Kopf aus der Schlinge ziehen in den vergangenen 22 Saisonrennen. Die Red-Bull-Racing-Bilanz kann sich also sehen lassen und liest sich so: 113 Siege, davon 28 Doppelsiege in 369 Grands Prix, 264 Podestplätze, 96 Pole Positions, 75 zweite und 75 dritte Plätze, 95 schnellste Rennrunden, sieben Fahrer-WM-Titel, sechs Konstrukteurs-Pokale. Soweit die aktuellen Bullen-Zahlen vor dem F1-Auftakt 2024 am 2. März (Samstag-Nachtrennen) in Bahrain.
Jetzt aber zur „Geburt“ der Bullen: Der Bullen-Rennstall ging Ende 2004 aus dem britischen Team Jaguar mit Sitz in der englischen Großstadt Milton Keynes hervor. Die grünen Raubkatzen gehörten zum Mutterkonzern Ford. Die Amerikaner hatten im Juni 1999 den Rennstall von Jackie Stewart aufgekauft und Ford ging ab der Saison 2000 unter der Bezeichnung Jaguar Racing an den Start in der Formel 1. Bis zu ihrem überraschenden Ausstieg 2004 machte die Konzernmutter Ford in fünf Jahren alles falsch, was man falsch machen konnte. Unzählige unglaublich teure Fahrer und Teamchefs, unter anderem Niki Lauda, wurden verschlissen, Millionenabfindungen inklusive. Technische Direktoren, Ingenieure, Aerodynamiker, Designer und Berater kamen und gingen. Ford hatte jährlich 120 Millionen Dollar investiert. Den kühlen Kalkulatoren in der Ford-Chefetage in Detroit wurde es mit den Personalkosten und anderen Investitionen zu bunt, sie zogen kurzerhand den Stecker – nach 82 Grand Prix-Teilnahmen, 49 WM-Punkten und zwei dritten Podesträngen. Jaguar Racing war gescheitert, ein Totalschaden aber gerade noch verhindert. Der grüne Rennstall wurde veräußert unter der Bedingung, dass der neue Besitzer drei Jahre lang die 350 Jaguar-Mitarbeiter beschäftigen muss. Das bedeutet jährlich elf Millionen Personalkosten. Der milliardenschwere österreichische Red-Bull-Eigner Dietrich Mateschitz griff zu, kaufte die marode Truppe auf – für einen symbolischen Dollar, wie es hieß, und verpflichtete sich, drei Jahre die 350 Ex-Jaguar-Mitarbeiter zu beschäftigen und zu entlohnen. Doch damit nicht genug. Österreichs Top-Journalist und allwissender F1-Experte Heinz Prüller berichtet in seinem Jahrbuch, Mateschitz habe die Bonusgelder für alle Mitglieder erhöht – 100 Pfund pro WM-Punkt als Extraprämie für alle, von den Ingenieuren bis zum Küchenpersonal. Zum Saisonschluss waren das 3.400 Pfund. „Damit kannst du dir schon ein Motorrad kaufen oder einen Kleinwagen“, sollen die 350 Angestellten gejubelt haben. Wäre der Jaguar-Verkauf an den Energydrink-Hersteller gescheitert, hätte der Ford-Konzern nach US-Recht für bis zu drei Jahre seine Angestellten weiterbezahlen müssen, so TV-Kommentator Prüller. Dietrich „Didi“ Mateschitz war der Retter. Jaguar Racing war gestorben und Red Bull Racing geboren. Die roten Bullen, die künftig unter österreichischer Lizenz auf den F1-Weiden grasen werden, haben die grünen Raubkatzen weggebissen. Es war eine schwierige „Geburt“. Die Jung-Bullen sind im Eiltempo erwachsen und WM-reif geworden.
Bonusgelder fürs Küchenpersonal
Der damals 60-jährige Visionär und Unternehmer Mateschitz war seit der Geburt seiner Bullen der Ober- und Superbulle, der Regent, der das Zepter fest in der Hand hielt bis zu seinem Tod am 22. Oktober 2022. Als Racing-Teamchef wurde Christian Horner eingestellt. Zu Beginn seiner Verpflichtung war der Brite mit 32 Jahren der mit Abstand jüngste Teamchef im Fahrerlager. Der ehemalige Rennfahrer Horner formte aus dem intriganten Jaguar-Haufen ein menschlich einwandfrei geführtes Team. Mit an Bord des Rennstalls ist seit Beginn der Österreicher Helmut Marko. Der heute 80-jährige Doktor der Rechtswissenschaft und ehemalige Grazer Rennfahrer, in der Szene nur als „der Doktor“ bekannt, war Mateschitz’ Statthalter und engster Motorsportberater. Marko ist ein kompromissloser Sportchef mit kurzer Zündschnur. Wer nicht spurt und keine Leistung bringt, ist schnell ausgemustert. Für etliche Fahrer war des Doktors „Rezept“ ein Rausschmiss. Für 2006 wurde der Konstrukteurs-Guru Adrian Newey von McLaren abgeworben, der Brite dürfte auch der bestbezahlte Aerodynamiker der Branche sein. Als Fahrer wurden der nach neun McLaren-Jahren entlassene 13-malige GP-Gewinner David Coulthard (34) und der Österreicher Christian Klien (22) verpflichtet. Die Show konnte also beginnen.
6. März 2005: F1-Auftakt in Melbourne, Australien. Debüt-Rennen für zwei Bullen-Boliden. Dritte Startreihe für Coulthard und Klien. Der Schotte wird Vierter, der Ösi starker Siebter. Superparty im Hafen von Melbourne. Die sieben WM-Punkte wurden gebührend und standesgemäß nach Red-Bull-Regeln (dazu später mehr) gefeiert. Klien nach dem Superdebüt: „Herr Mateschitz hat aus Amerika angerufen, Coulthard und mir gratuliert, seine Stimme hat sich fast überschlagen vor Freude.“ Es folgte eine starke Bullen-Saison. Am Ende wurde der Rennstall unter den zehn Teams Siebter in der Konstrukteurswertung. Chef-Bulle Mateschitz im Prüller-Interview: „Alle Erwartungen haben sich erfüllt. Wir waren schon im ersten Jahr integriert und wurden sportlich ernst genommen.“
Alle Erwartungen erfüllt
Der neue Rennstall Red Bull hat das Establishment seither gewaltig durcheinandergewirbelt. Aber nicht nur auf sportlicher Ebene. Red Bull verlieh der Formel 1 eine neue Note: laut, bunt und auch selbstironisch. Im Vollgas-Zirkus wurde die neue Leichtigkeit argwöhnisch betrachtet. Aber (fast) alle profitierten von dieser Leichtigkeit. Vor den Rennen ließ Red Bull das auffälligste sogenannte Motorhome, ein eher architektonisches Gebilde, im Fahrerlager aufbauen. Die dreistöckige Hospitality (deutsch: Gastlichkeit) hat alles bisher im Fahrerlager in den Schatten gestellt. Bei den Grands Prix in Monaco schwimmt das „Energy Station“ genannte Ungetüm mit einem schwimmenden Pool zum Beispiel vom Hafen der Promi-Stätte St. Tropez auf Pontons, einer Schwimmplattform, ins Hafenbecken von Monaco. Auf ihren drei Ebenen bietet das Ungetüm eine Nutzfläche von 1.100 Quadratmetern. Dort tummeln sich die Gäste aller Couleur: Künstler, Schauspieler, Sänger, Filmschaffende, Models, Geschäftspartner und Journalisten. Und keiner muss hungern oder dürsten. Denn das kulinarische Programm in der Red-Bull-Hospitality hat allerhöchstes Niveau. Zu jedem Grand Prix wurden lokale Sterne-Köche verpflichtet, die im Schnitt acht- bis zehngängig mit bretonischem Hummer, Jakobsmuscheln und Gänsestopfleber für die Gäste aufzutrumpfen wussten. Auserlesene Weiß- und Rotweine aus der jeweiligen Region, in der die Formel 1 gerade ihren Auftritt hat, waren ebenso selbstverständlich wie eine auserkorene Nachspeise. Gourmets, wie in der deutschen Gastrosophie Feinschmecker, sachkundige Genießer raffinierter Speisen und Getränke bezeichnet werden, wussten diesen Service besonders zu schätzen. Jeder Gast, ohne Ansehen der Person oder Zugehörigkeit zu einem Konkurrenzteam, war stets willkommen. Essen und Trinken durfte in der Hospitality jeder, der wollte, selbstverständlich alles gratis.
Um etwas fürs Auge zu bieten, lobte Red Bull zu jedem Grand Prix einen Schönheitswettbewerb aus. An jedem Rennwochenende wurde die „Formula Una“ gekürt. Doch damit immer noch nicht genug, um bei Red Bull Geld mit zwei Händen auszugeben und zu „verbrennen“. Um über all diese „Aktivitäten der Leichtigkeit“ zu berichten, wurde eigens eine mobile Druckerei angeschafft. Sie druckte das „Red Bulletin“. Freitags, samstags und sonntags vor einem Rennen wurde diese vierfarbige Zeitschrift mit aktuellen News, harten Fakten, Storys über die schnellsten, smartesten und wichtigsten Player im glamourösen PS-Zirkus und für den Spaß auch mit jeder Menge Comics den Austrägern aus den Händen gerissen – kostenlos, versteht sich.
Mobile Druckerei reist mit
Die Party-Truppe von Red Bull hat dem Rest des rasenden Zirkus die Augen geöffnet. Staunen und Wundern waren die Folge. Ein solcher Erfolg erzeugt Neid und Missgunst. Teamchef Horner gibt in sozialen Netzwerken und Podcasts eine Antwort: „Als wir in die Königsklasse kamen, da galten wir nur als die Party-Truppe, die das Leben und die Formel 1 nicht so ernst nimmt wie die etablierten Rennställe. Aber wir haben das Team Schritt für Schritt aufgebaut, wir konnten 2009 erstmals einen Grand Prix gewinnen mit Sebastian Vettel vor Teamkollege Mark Webber in China, und 14 Jahre später können wir 113 Siege vorweisen. Nur vier Rennställe sind erfolgreicher, aber die haben Jahrzehnte vor uns angefangen.“ Nach Vettels viertem Fahrer-WM-Titel 2013 gab es bei den Bullen eine Delle. Mercedes war ab 2014 sieben Jahre lang mit sieben Fahrer-WM-Titeln das Nonplusultra. In dieser Zeit magerten die Bullen ab, für den einst erfolgsverwöhnten Rennstall waren es sieben magere Jahre. „Ich hatte in dieser schwierigen Zeit ohne Chance auf den WM-Titel manchmal den Gedanken, ob wir es jemals wieder schaffen, Weltmeister zu werden“, so Horner, „aber die Mannschaft ist weitgehend stabil geblieben, wir haben in der titellosen Zeit nicht aufgegeben und unermüdlich daran gearbeitet, wieder an die Spitze zu kommen.“ Seine Erkenntnis aus dieser „unermüdlichen Arbeit“ beurteilt der 50-Jährige so: „Heute ernten wir die Früchte dieser Arbeit. Wir tun das mit Stolz, aber auch in Demut, denn wir wissen, wie schnell erfolgreiche Phasen im Rennsport vorbei sein können.“
Aus der lauten, bunten, schillernden Party-Truppe mit Leichtigkeit ist der einst belächelte Red-Bull-Rennstall zu einer wahren Größe im F1-Zirkus geworden. Ein Hersteller von Energydrinks, deren Aufputschmittel „Flügel verleihen“, düpiert heute gestandene Automobilhersteller wie Mercedes, Ferrari oder Renault. Das nennt man doch getrost eine Erfolgsgeschichte!