Vor drei Jahren wurde die Reform im deutschen Leistungssport angestoßen. Spürbare Veränderungen gab es bislang nur wenige, bei den Athleten macht sich Verunsicherung breit.
Die deutsche Sprache ist im Ausland nicht nur für ihre knifflige Grammatik bekannt, sondern auch für ihre Komposita. Der Deutsche liebt die aus möglichst vielen Substantiven zusammengesetzten Wörter, während der Engländer oder der Franzose bei „Donaudampfschifffahrtskapitän" nur Bahnhof versteht. Auch die „Leistungssportreform" ist so ein Wort-Ungetüm, sperrig und komplett emotionslos. Genau wie ihr wichtigstes Werkzeug, das „Potenzialanalysesystem", kurz PotAS genannt. Es sind aber nicht nur die Begrifflichkeiten, die das Jahrzehnt-Projekt des deutschen Sports so unnahbar und so schwer erklärbar machen. Es liegt auch an der Umsetzung.
Die nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro angestoßene Reform des Spitzensports ist ins Stocken geraten, hat auf ihrem Weg mehrmals die Richtung geändert, und manche Kritiker behaupten, es wäre besser, wenn sie nie ans Ziel gelangt. „Es gibt viel Unsicherheit bei den Athleten", sagte Silke Kassner, die Athletensprecherin im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), bei ihrer Rede im Sportausschuss des Deutschen Bundestages im September. Zur Unsicherheit würde vor allem das Hin und Her bei der angestrebten Reduzierung der Bundesstützpunkte beitragen, erklärte Kassner. Unter dem früheren Innenminister Thomas de Maizière wurde klar geregelt, dass die Reform mit einer stärkeren Zentralisierung einhergehen müsse. Nachfolger Horst Seehofer hat daran aber wenig Interesse, mit Verweis auf sein neu geschaffenes Ressort „Heimat" kassierte der CSU-Politiker diese Maßnahme mehr oder weniger eigenhändig ein. Es dürfe keine Region ohne die Förderung durch Stützpunkte geben, so Seehofer.
Auch die zweite zentrale Säule der Reform, das Potenzialanalysesystem PotAS, ist ins Wanken geraten. Bei dieser Prüfung sollen die einzelnen Fachverbände nach ihren möglichen Potenzialen evaluiert und entsprechend gefördert werden. Hinter vorgehaltener Hand stöhnen viele Verbandsoffizielle über den immensen Arbeitsumfang und hinterfragen die Sinnhaftigkeit. Kassner spricht von einer „ungenügenden Berücksichtigung" der bisherigen Ergebnisse. All das sorge dafür, dass sich die Athleten hierzulande mehr und mehr die Frage stellen, „was sich überhaupt ändert", berichtet Kassner. Die bisherigen Fortschritte seien höchst überschaubar, kritisierte die DOSB-Athletensprecherin: „Es gibt bisher keine Verbesserungen außer der Weiterentwicklung der Athletenförderung in der Bundeswehr, der ergänzenden, zivilen Athletenförderung in Kooperation mit der Deutschen Sporthilfe und die Gespräche zum Rentenpaket für die Athletinnen und Athleten." Doch bis zu einer finalen Abstimmung über ein mögliches Rentenpaket werden noch Jahre ins Land ziehen.
„Der Reformwille hat nachgelassen"
Im Sportausschuss hörten die Bundestagsmitglieder der DOSB-Athletensprecherin parteiübergreifend mit Interesse zu. „Ich sehe die Reform auf einem längeren Weg als ursprünglich angenommen", sagte die Sportausschuss-Vorsitzende Dagmar Freitag dem SID. Vieles bei der Umsetzung dauere ihr „zu lange, sicherlich auch, weil der Reformwille nach dem Wechsel von Thomas de Maizière zu Seehofer im DOSB erkennbar nachgelassen hat", ergänzte die SPD-Politikerin. DOSB-Präsident Alfons Hörmann weist die Kritik von sich: „Wir sind mit der Reform auf Kurs und spüren erfreulicherweise bereits erste positive Auswirkungen." Den Eindruck der mangelhaften und vor allem verschleppten Umsetzung könne er „in keinster Weise teilen". Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium (BMI) sei „sehr positiv", man befinde sich auf „einem sehr guten Weg bei der Umsetzung der Reform, auch wenn naturgemäß noch vieles zu tun bleibt". Hörmann betonte, dass die Maßnahmen erst nach den Olympischen Spielen 2020 in Tokio greifen würden – so wie ursprünglich auch geplant: „Wir sind mit den Sommersportverbänden mitten in der PotAS-Analyse, und auch die Ergebnisse von Tokio im nächsten Jahr werden noch wichtiger Teil dieser Analyse sein."
Dass die Politik jedoch den Reformwillen und die Umsetzungen kritisch beäugen, ist verständlich. Schließlich zahlt der Bund dem deutschen Sport 46 Millionen Euro allein in diesem Jahr mehr, damit das Großprojekt gelingt. Der gesamte Sportetat wuchs auf 234 Millionen Euro pro Jahr an. So viel ließ sich der Steuerzahler den Leistungssport noch nie kosten. Hörmann nennt diese Summe einen „wichtigen ersten Schritt" und einen „großen Erfolg" nach zähen Verhandlungen. Allerdings hatte der Bundesrechnungshof erst im Mai auf die weiterhin hohe Anzahl an Stützpunkten und Kaderathleten hingewiesen. Eine Erhöhung der Fördersumme sei zwingend an die Reform-Umsetzung gekoppelt. Den vielen offenen Fragen musste sich Hörmann auch beim Parlamentarischen Abend des Sports im September in Berlin stellen. Sein Vorgänger Dr. Thomas Bach, heute als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees der ranghöchste Sportfunktionär der Welt, war Ehrengast im Tipi am Kanzleramt.
Das Vertrauen des für den Sport zuständigen Ministerpräsidenten besitzt der DOSB. „Die Politik ist gut beraten, wenn man sich fachlich nach denen richtet, die im Sport tätig sind und sich nicht als Vormund betätigt", sagte Horst Seehofer. Anders als sein Vorgänger de Maizière, der im Zuge der teuren Reform auch ein Mehr an Medaillen bei Olympischen Spielen gefordert hatte, streicht Seehofer dieses Ziel von der Agenda: „Es ist immer wichtig, auf dem Podest zu landen, aber ich werbe dafür, dass wir es mit einer gewissen Leichtigkeit verbinden." Er sei „gegen Verbissenheit" bei der Medaillenzählerei, ergänzte Seehofer.
Der Sport-Etat wuchs auf 234 Millionen Euro pro Jahr an
Ob sich diese Einstellung aufrechterhalten lässt, wird sich schon im nächsten Sommer in Tokio zeigen. Zwar konnte sich „Team D", wie sich die deutsche Mannschaft nennt, in Rio unter den Top-5-Nationen behaupten. Aber in vielen Sportarten hatten die Athleten deutlich den Anschluss an die Weltspitze verpasst. Auch die Anzahl der Finalplatzierungen, die für Experten ein noch verlässlicherer Indikator für den Leistungsstand einer Sportnation ist als der Medaillenspiegel, ging klar nach unten. „Wir haben zweifelsohne einige Sorgenkinder, wo es unter Umständen tief greifende Reformen erfordert", hatte Hörmann damals in seiner Bilanz-Pressekonferenz im Deutschen Haus gesagt.
Eins dieser Sorgenkinder war das Becken-Schwimmen, bei dem genau wie vier Jahre zuvor in London keine Olympiamedaille gewonnen wurde. Der danach gefasste und vom BMI unterstütze Plan, die Sportart mittels Zentralisierung und Team-Verkleinerung voranzubringen, ist inzwischen wieder in die andere Richtung gekippt. Die Heimtrainer sind mächtiger als je zuvor, die Schwimmer können sich individuell und ohne schwierige Normvorgaben auf die Saisonhöhepunkte vorbereiten. Der Freistilschwimmer Florian Wellbrock hat mit seinen zwei WM-Titeln in diesem Jahr über zehn Kilometer im Freiwasser und über 1.500 Meter im Becken bewiesen, dass diese Rechnung aufgehen kann. Doch die Breite blieb auch bei den Titelkämpfen in Südkorea den Beweis schuldig, dass die neue Konzeption den gesamten deutschen Schwimmsport näher an die Weltspitze heranführt.
Unabhängig von den Strukturen lässt sich zweifelsfrei behaupten, dass der Leistungssport in Deutschland einen schweren Stand hat. Das Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche ist immens, die Ablenkungen verlockend, der Anreiz des sozialen Aufstiegs längst nicht so stark wie in anderen Ländern. Hinzu kommt, dass Leistungssportler hierzulande kaum von der finanziellen Unterstützung leben können, die sie während ihrer aktiven Karriere von der Stiftung Deutsche Sporthilfe oder den Prämien erhalten. Nach einer Studie der Deutschen Sporthochschule liegt der durchschnittliche Stundenlohn von Spitzensportlern in Deutschland mit 7,41 Euro unter dem gesetzlichen Mindestlohn.
„Athleten haben später Nachteile bei der Rente"
Noch problematischer wird es in der Zeit nach der Sportkarriere. „Natürlich haben Athleten, die nichts oder kaum etwas haben, einzahlen können während ihrer Laufbahn, dann später Nachteile bei der Rente", mahnte André Hahn, der sportpolitische Sprecher der Linkspartei. Seehofer versprach Athleten des Olympia- (von 300 auf 800 Euro) und des Perspektivkaders (von 300 auf 700 Euro) eine Aufstockung ihrer monatlichen Grundförderung. Für Sporthilfe-Chef Michael Ilgner ist dies ein „epochaler Schritt in der Athletenförderung", auch wenn das Förderziel nach wie vor bei 1.000 bis 1.200 Euro monatlich pro Athlet läge.