Die SPD hat diesmal vieles anders gemacht. Die K-Frage hat die Partei ungewöhnlich früh geklärt. Das Programm zur Wahl steht. Sechs Monate vor der Wahl bleibt die Ausgangslage schwierig.
Diesmal sieht es danach aus, als würde es passen. Die Partei macht derzeit einen für ihre Verhältnisse ungewohnt geschlossenen Eindruck. Selbst der jüngste Deutschlandtrend legt nahe, dass ein bisschen was davon beim Wahlvolk angekommen ist. Nach der Vorstellung des Programms zur Bundestagswahl legt die SPD in der Sonntagsfrage beim Deutschlandtrend um einen Punkt auf 16 Prozent zu, Olaf Scholz selbst ist neben der Kanzlerin das beliebteste Mitglied im Kabinett mit zuletzt leicht steigenden Werten. Trendwenden lassen sich daraus allerdings bei den Umfragetoleranzen nicht erschließen. Bereits nach der frühen Nominierung von Olaf Scholz konnte die SPD in Umfragen leicht zulegen, was sich aber dann schnell wieder auf das Maß entwickelte, das seit langem wie festzementiert aussieht: 15 Prozent
Genau vor vier Jahren (19. März 2017) wurde Martin Schulz mit 100-Prozent-Zustimmung offiziell zum Kanzlerkandidaten gewählt, die SPD befand sich im „Schulz-Zug" bei Umfragewerten klar über 30 Prozent. Am Ende waren es 20,5 Prozent. Ein Ergebnis mit einer „2" vorne würde derzeit vielen schon wie ein Erfolg vorkommen nach Phasen, in denen die ehrwürdige alte Dame SPD dagegen kämpfen musste, erstmal überhaupt im zweistelligen Bereich zu bleiben. In Baden-Württemberg bei der bevorstehenden Landtagswahl sehen die letzten Umfragen die SPD zwischen zehn und elf Prozent. Olaf Scholz ficht das nicht an. Sein „Ich setze auf Sieg" klingt nicht so sehr nach einem erwartbaren, trotzigen Wahlkämpfer-Pflichtspruch. Er meint es ernst, wenn er heraufbeschwört, dass es wieder einmal Zeit für einen Sozialdemokraten im Kanzleramt wäre.
Modernisierung des Sozialstaats
Zeit auch deshalb, weil sich die SPD als der eigentliche Aktivposten der GroKo sieht. Tatsächlich lassen sich für diese Selbsteinschätzung Belege ins Feld führen. Das Problem ist nur, dass das in der Bevölkerung kaum so wahrgenommen wird. Ein ums andere Mal mahnen sich die Genossinnen und Genossen gegenseitig, die eigenen Erfolge in der GroKo besser darzustellen und zu verkaufen. Gleichzeitig lehren Wahlanalysen aus der Vergangenheit, dass Wähler kaum zu besonderer Dankbarkeit neigen. Für sie zählen Erwartungen, Wünsche und Forderungen für die Zukunft.
Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat Anfang Februar seine „Zukunftsmissionen" präsentiert. Klimawandel, Mobilität, Digitalisierung und Gesundheit sind die großen Überschriften. Das alles, wie es sich für den Kandidaten gehört, „solide finanziert", also mit einer Steuerreform, die „Chancen und Lasten gerecht verteilt". Anfang März folgte die Konkretisierung im Entwurf zum Wahlprogramm, in dem die grünen Themen konkreter wurden, verbunden mit Reizwörtern für die Wahlkampfauseinandersetzung (wie etwa „Tempo 130"), in dem aber auch soziale Themen so geschärft wurden (Bürgergeld, Verbreiterung der gesetzlichen Rentenversicherung), dass sie das Signal als „Abschied von Hartz IV" gesetzt haben.
Die ersten Reaktionen zeigen: Die Botschaften zeigen Wirkung – zumindest beim politischen Mitbewerber und den Kommentatoren: Anbiederung an die Grünen einerseits, Linksruck auf der anderen Seite, lauter Einordnungen. Die SPD hatte allerdings schon vor zwei Jahren, noch unter der Leitung von Andrea Nahles, ihren Schlussstrich unter das Kapitel Hartz IV gezogen. Weniger Links-ruck, vielmehr das sichtliche Bemühen, ein linkeres Profil zu schärfen, vor allem das Signal: Nicht noch mal GroKo.
Programm und Kandidat passen zusammen, ordneten viele Beobachter die Vorlage des 50-Seiten-Papiers ein. Dass Scholz als Generalsekretär an der Seite von Gerhard Schröder mithalf, die Agenda-Pläne mit Hartz IV durchzusetzen, wird ihm bis heute vogehalten. Als Andrea Nahles, damals SPD-Vorsitzende, vor zwei Jahren den Abschied der SPD von Hartz IV einläutete, befand Scholz recht pragmatisch im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung", die SPD sei die Partei, die den Sozialstaat „auf der Höhe der Zeit" halte. Weil sich die Zeit gewandelt habe, schlage die SPD nach eineinhalb Jahrzehnten „abermals eine Moderisierung des Sozialstaates vor".
Etliche Sozialdemokraten an der Basis wollten vor nicht einmal eineinhalb Jahren lieber auf Nummer sicher gehen, zogen das als eher links geltende Duo Walter-Borjans und Esken dem Vizekanzler und Finanzminister Scholz bei der Wahl zur Parteispitze vor und signalisierten damit auch, wohin die Reise gehen sollte. Die SPD ist GroKo-müde und zermürbt von der Erfahrung, dass in einer Großen Koalition der größere Partner allein schon deshalb die Lorbeeren erntet, weil er nun mal den Regierungschef oder eben die Regierungschefin stellt.
Deshalb wäre diese Wahl die bislang einzigartige Chance, dieses scheinbare Naturgesetz zu durchbrechen, weil die amtierende Chefin bekanntermaßen nicht mehr antritt und Scholz mit seiner langjährigen Erfahrung fast schon den Merkel-Spruch übernehmen könnte: „Sie kennen mich". Ralf Stegner, der zum linken Flügel der Partei zählt, hatte bereits vor geraumer Zeit diese Chance ausgemacht, als er darauf verwies, dass die hohen CDU-Werte vor allem „Merkel-Prozente" seien.
Im Grunde müsste auch die aktuelle Situation der SPD in die Hände spielen. Die Corona-Krise hat gezeigt, wozu ein „starker Staat" gebraucht wird und welche Lücken gerissen werden, wenn sich der Staat zu sehr zurückzieht und zuviel einem freien Markt überlässt. Scholz selbst hat sich gleich in der ersten Phase der Krise mit seiner „Bazooka" als Macher vorgestellt. Den große Push hat es bislang nicht gebracht.
Die Partei bleibt weit weg von dem, was sich die Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken als Ziel vorgenommen hatten. Umfragen hätten gezeigt, dass sich immer noch 30 Prozent der Menschen der SPD verbunden fühlten. Die alle wieder zu überzeugen, das auch bei einer Wahl zu zeigen, sei allerdings ein eher langfristiges Ziel, schließlich habe „die Marke SPD in der Vergangenheit schwer gelitten".
„Deutlich progressiver"
Imerhin ist es gelungen, das Wahlprogramm weitgehend ohne sonst in der Programm-Partei SPD übliche Flügelkämpfe zu entwickeln. Diesmal gab es keinen Kevin-Kühnert-Effekt. Der damalige Juso-Vorsitzende hatte ausgerechnet zum Auftakt der heißen Phase des Europawahlkampfs die Partei mit der Forderung nach Kollektivierung, also Verstaatlichung, in eine heftige Debatte gestürzt. Seine Nachfolgerin Jessica Rosenthal meldet zwar Ergänzungsbedarf für das Wahlprogramm an, begrüßte aber ansonsten, dass sich die Partei damit „deutlich progressiver" aufgestellt hätte.
Ziemlich unverhofft ereilte in den letzten Tagen die Partei eine ganz andere Auseinandersetzung. Im Zentrum dabei die Frage nach einer linken Identitätspolitik in der SPD. Eine schon länger schwelende Debatte, die nicht nur die SPD bewegt, bei der es um die Frage nach einer Gesellschaft geht, die immer mehr in „communities" zerfällt. Eine sicher gesellschaftlich notwendige Debatte. Nur haben die Menschen im Land nach über einem Jahr Pandemie, monatelangem Lockdown und noch nicht absehbaren Folgewirkungen derzeit eher andere und ganz pragmatische Fragen.
Die Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann von der Universität Zürich, die mit anderen eine Analyse zur europäischen Sozialdemokratie vorgelegt hat, befand jedenfalls: „Schwieriger als die SPD kann man es kaum haben".
Der Politologe Thorsten Faas hat zuletzt „eine Menge Dynamik" ausgemacht. Aus seiner Sicht jedenfalls ist „noch alles offen". •