„Pflege geht alle an", sagt Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. Sie war in der Pro Seniore Residenz Wasserstadt in Berlin zu Besuch, um sich mit Fachfrauen und Azubis auszutauschen. Das gemeinsame Ziel: dem Pflegeberuf zu mehr Anerkennung zu verhelfen.
Die Bilder im Kopf müssen sich ändern", sagt Franziska Giffey bei ihrem Besuch, „wir müssen andere dagegen setzen." Denn wer will schon ausgebildet werden, um im „Notstand" zu landen? Wer möchte in einem Beruf arbeiten, bei dem immer nur von Mangel und Misere, Zeitnot und Stress die Rede ist? Damit hat die Ministerin das Dilemma auf den Punkt gebracht: Die Altenpflege braucht ein neues Image.
Wir befinden uns in der Pro Seniore Residenz Wasserstadt im Berliner Stadtteil Spandau. Idyllisch an der Havel gelegen, kümmern sich hier 130 Mitarbeiter um die Bewohner. Ringsherum liegen Apartments mit betreutem Wohnen für ältere Menschen, die sich zum Teil noch selbst versorgen und die Angebote der Einrichtung mit nutzen können.
Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hat an einem Tisch im Raum Bella Vista mit Blick aufs Wasser Platz genommen. Sie verweist auf die Konzertierte Aktion Pflege, die sie mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gestartet hat. Mehr Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern und die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen zu verbessern – das ist das Ziel. Wie das gehen kann? Um das zu beantworten, ist die Ministerin gekommen. Sie möchte mit Menschen aus der Praxis, mit Vertreterinnen der Pro Seniore Residenzen über deren Ideen zur Stärkung der Pflege reden.
Giffeys Gesprächspartnerinnen sind Christine Hamann, sie hat die Pro Seniore Residenz Wasserstadt jahrelang geleitet, Katrin Eschenweck – sie kümmert sich um die Personalentwicklung in der Region – und Chantal Ostermann, verantwortlich für die Einrichtung. Ein bisschen nervös sind am Anfang alle bei diesem prominenten Besuch. Doch die Fachfrauen haben sich akribisch vorbereitet. Schließlich geht es ihnen genau wie der Ministerin um die Zukunft der Pflege: Wie lassen sich junge Menschen dafür gewinnen, in diesen Beruf einzusteigen und dabei zu bleiben?
Natürlich wird schon eine Menge getan, führen Eschenweck und Hamann aus. Angefangen von Berufsorientierungsveranstaltungen an Schulen über die Zusammenarbeit mit Jobmessen und Jobcentern bis hin zu Kooperationen mit verschiedenen Weiterbildungsträgern. Altenhilfeeinrichtungen bieten Praktika an, ermuntern, bei ihnen ein freiwilliges Jahr zu absolvieren oder versuchen, Migranten für den Beruf zu werben.
„Die Azubis sollen stolz auf sich sein"
Auch die Bezahlung sei mit über 1.200 Euro im dritten Lehrjahr inzwischen so gut wie die eines Mechatronikers oder eines Maurers, erklärt Katrin Eschenweck. Viele Einrichtungen zahlten über Tarif. Aber es fehle immer noch an Anerkennung und Wertschätzung. Eschenweck: „Es geht nicht nur darum, dass Freunde, Familie oder Partner einen Azubi, der eine Pflegeausbildung macht, unterstützen. Wir möchten, dass der Azubi selbst stolz ist auf das, was er täglich tut, und dass dieser Stolz auch auf seine Umgebung abfärbt."
Franziska Giffey nickt lebhaft. Ihr als Berlinerin fällt sofort eine Parallele ein: „Die BSR, die Berliner Stadtreinigung, hat genau das mit einer Imagekampagne geschafft. Sie haben einem Beruf, der in den Augen der Öffentlichkeit lange gering geschätzt wurde, ein so gutes Image verpasst, dass heute jeder positiv reagiert, wenn er die BSR-orangene Kluft sieht." So etwas müsse man auch in der Altenpflege hinbekommen.
Wie also kann man die Jugendlichen zeitgemäß ansprechen? Eine vorläufige Ideensammlung dazu gibt es bereits. Christine Hamann und Katrin Eschenweck haben die Erfahrung gemacht, dass Imagefilme über den Arbeitsalltag einer Altenpflegefachkraft in Schulen gut ankommen. Ein 360-Grad-Video, das man mit einer Virtual-Reality-Brille anschauen kann, existiert bereits. Informationen über die unterschiedlichen Ausbildungswege gehören dazu, auch über Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten in dem Berufsfeld – am besten alles so, dass man es auf Plattformen wie Youtube online stellen kann. Und nicht zuletzt gibt es interaktives „Probier-Material", also Anschauungsobjekte, wie sie von Pro Seniore Einrichtungen bereits eingesetzt werden. Hamann erklärt: „Wir benutzen eine sogenannte Pflegepuppe zum Üben. Beliebt ist auch der ‚Age Simulator‘: Mit Gewichten an den Gliedmaßen, einer Brille, die das Sehfeld einschränkt und Handschuhen, die Greifen und Tasten erschweren, kann jeder nachempfinden, wie er sich vielleicht mit 80 fühlen wird."
Die Fachfrauen empfehlen so ein Material-Kit auch denen, die demnächst bundesweit für den Pflegeberuf werben werden. Vom Ministerium beauftragt sind in Berlin-Brandenburg bereits zwei Berater aus dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben unterwegs. Matthias Döring und Roberto Tscherner stellen unter anderem in Schulen den Beruf vor – „aber das ist alles viel zu wenig", meint Hamann: „Zwei Personen für so ein großes Gebiet …"
Über das hohe Maß an Fachlichkeit, das der Beruf verlangt, sind sich alle am Tisch einig – in knapp eineinhalb Jahren startet ja auch eine bundesweit einheitliche Pflegeausbildung: Sie qualifiziert sogar für drei Berufe, mit einer Vertiefung jeweils in einem der Bereiche Krankenpflege, Kinderkrankenpflege oder Altenpflege. „Eine gute Ausbildung wird auch gebraucht", meint Christine Hamann. „Schließlich haben es Altenpflegefachkräfte mit Menschen zu tun, die multimorbid sind, also meist nicht eine, sondern mehrere schwere Erkrankungen haben. In einer Pflegeeinrichtung haben die Fachkräfte Tag und Nacht ein Auge auf ihre Patienten. Da müssen sie wissen, wann sie eingreifen müssen oder wann ein Arzt gebraucht wird. Das ist ganz schön viel Verantwortung."
Verantwortung für andere übernehmen
Informationen und ein gutes Image – das sind Ziele einer breiten Kampagne, die das Bundesministerium im kommenden Frühjahr starten will. Franziska Giffey erklärt den aktuellen Stand: „Wir werden in einer Arbeitsgruppe konkrete Maßnahmen entwickeln, um Ausbildungsbetriebe und Pflegeschulen für die neuen Pflegeausbildungen fit zu machen. Bis Ende 2018 sollen die ersten Vorschläge ausgearbeitet sein, die 2019 in die Umsetzung gehen sollen."
Pro Seniore ist da schneller: „Wir legen schon im November los", verrät Katrin Eschenweck. „Es wäre schön, wenn wir das gemeinsam mit dem Familienministerium im kommenden Jahr vorantreiben könnten."
Derweil wickelt Saif Khalid Fadhil seiner Ausbilderin Diana Raschke ein paar Türen weiter die Druckmanschette um den Oberarm und pumpt diese mit dem Gummiball auf. Blutdruckmessen: Wir sind auf der nächsten Station des Ministerinnen-Besuchs in der Pro Seniore Residenz. Jetzt geht es um die praktische Ausbildung. Franziska Giffey fragt nach, erfährt, dass Saif mit seinen 29 Jahren im Irak als Lehrer gearbeitet hat, nach Deutschland fliehen musste, jetzt im ersten Lehrjahr einen Beruf lernt, „der mich glücklich macht." Dabei hatte er den Abschiebebescheid schon in der Hand. Nur weil die Residenzleitung sich bei allen Ämtern für ihn einsetzte und er selbst immer engagiert um seine Chance kämpfte, gelang es, für ihn eine Duldung zu erwirken. „Die Bewohner lieben ihn", sagt Diana Raschke. „Wir organisieren für ihn einen Deutschkurs bei uns intern im Haus." Die Ministerin findet aufmunternde Worte für Saif. Sie kennt solche Fälle – Pflegekräfte aus dem Ausland sind ein wichtiges Thema der Konzertierten Aktion Pflege.
Der zweite junge Mann am Tisch heißt Ervin Bricic. Er ist 26 und im dritten Lehrjahr, hat Bauzeichner gelernt, war damit aber nicht zufrieden. „Ich wollte lieber etwas mit Menschen machen", sagt er. Als sein geliebter Opa krank wurde, hat er bei der Pflege mitgeholfen – und da fand er seinen Weg. „Das Feedback, das ich bei dieser Arbeit bekomme, ist das Schöne", sagt er. „Das Lächeln, die Dankbarkeit, die Anerkennung." Auch er findet, dass in der Öffentlichkeit immer nur das Negative, das mit dem Beruf verbunden ist, betont wird. Was es für einen selbst bedeutet, käme zu wenig rüber: die Anerkennung, der Stolz, etwas zu leisten, das für viele ein Tabu-Thema sei.
Ausbildungsleiterin Diana Raschke stimmt zu. „Wir haben zu wenig Bewerber. Wir könnten 16 bis 20 junge Leute ausbilden, stattdessen habe ich nur zwölf." Sie selbst hat als Krankenschwester angefangen, ist dann zur Altenpflege gewechselt und im Laufe der Zeit bis zur leitenden Pflegefachkraft aufgestiegen. „Sicherlich haben wir es in diesem Beruf mit unheilbaren Krankheiten, mit Sterben, mit dem Tod zu tun", sagt sie. „Unsere Azubis lernen zwar professionell damit umzugehen, aber es bleibt nicht einfach."
„Bleiben Sie so begeistert!"
„Heute gilt in der Altenpflege: ambulant – teilstationär – stationär", erläutert Christine Hamann. Pflegebedürftige sollten möglichst lange zu Hause bleiben können und erst, wenn es gar nicht mehr geht, in eine Altenpflegeeinrichtung wechseln. „Das bedeutet, dass in den Heimen viele bereits sehr gebrechliche Senioren wohnen, die fachlich betreut werden müssen."
„Wer Pflegebedürftige versorgt, übernimmt Verantwortung für das Leben und Wohlergehen anderer Menschen. Das macht nicht jede und jeder, und das können auch nicht alle", ergänzt die Ministerin. „Einen großen Schritt haben wir schon mit der neuen Pflegeausbildung geschafft. Ab 2020 wird es überall eine Ausbildungsvergütung geben. Das Schulgeld wird abgeschafft und der Weg in ein Pflegestudium eröffnet. Jetzt sind wir in der konkreten Vorbereitung, damit es 2020 wirklich losgehen kann."
Aber nicht nur gut ausgebildete Pflegekräfte werden gebraucht, auch ein Bewusstseinswandel in der Öffentlichkeit muss sein, betont Christine Hamann. Ein Wir-Gefühl müsse Platz greifen, ergänzt Katrin Eschenweck, statt der ständigen ausgrenzenden Berichte aus einem vorgeblichen „Notstandsgebiet". Und Ministerin Giffey kann dem nur zustimmen, was die beiden Fachfrauen als Ziel sehen: Wichtig sei das Bewusstsein, dass Pflege letzten Endes alle angeht, dass jeder in die Situation kommen kann, gepflegt werden zu müssen. Nur dann wird die Altenpflege an Image gewinnen. Jeder wünsche sich doch, dass, wenn er selbst betroffen ist, Pflege mit Respekt, Anstand und Würde geschieht. Und dafür braucht es eine Anerkennung, die von der ganzen Gesellschaft ausgeht. Franziska Giffey nickt – und schließt noch einen Wunsch an die beiden Praktikerinnen an: „Bleiben Sie so begeistert und begeisternd gegenüber den jungen Menschen wie bisher!"