Neun Rennen, acht verschiedene Sieger: Wer in der Formel E den Gewinner vorhersagen will, könnte ebenso gut Lotto spielen. Bei Fans und Fahrern kommt diese Unberechenbarkeit gut an. Mit diesem Trumpf macht die Elektro-Rennserie jetzt sogar der Formel 1 Konkurrenz.
Als die Formel E vor der Saison die Einführung des Angriffsmodus’ verkündete, bezog sich das eigentlich ausschließlich auf das Geschehen auf der Strecke. Dort können die Fahrer seither kurzzeitig mehr Leistung bekommen, indem sie einen bestimmten Bereich überfahren und das Energieplus damit freischalten. Ein wenig hat es allerdings den Eindruck, als würde sich diese Neuerung auch in anderen Bereichen niederschlagen. Die Videos etwa, die die Elektrorennserie vor jedem Rennen produziert, sind in den vergangenen Monaten deutlich martialischer geworden. Vor dem Rennen in Rom hatte sich die Marketingabteilung einen Clip im Stil von „Game of Thrones" ausgedacht, zum Rennen in Berlin ließ sie zwei Spielzeugrenner durch Straßen der deutschen Hauptstadt rasen, die am Ende des Beitrags von einem echten Formel-E-Wagen zerquetscht wurden. Die dazugehörige Botschaft lautete: „Playtime is over". Genug gespielt.
Wurde die Formel E anfangs noch belächelt, ist daraus längst eine ernstzunehmende Serie geworden. Die Zuschauerzahlen steigen stetig, die Einschaltquoten gehen nach oben, weshalb neben Eurosport in dieser Saison auch ARD und ZDF einen Großteil der Rennen übertragen. Auch das Rennen in Berlin am 25. Mai wird live im Ersten zu sehen sein. In diesem Jahr findet das Rennen erstmals an zwei Tagen statt, wobei freitags eigentlich nur das freie Training ausgetragen wird. Trotzdem können sich auch für diesen Tag die Ticketverkaufszahlen sehen lassen. Parallel findet das Greentech-Festival über grüne Technologien statt, das von Ex-Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg mitorganisiert wird, der sich seit 2017 als Anteilseigner in der Formel E engagiert. „Wir wollten das Event in Berlin noch größer machen", sagt Formel-E-Chef Alejandro Agag. Rosberg sagt: „Das wird das coolste Formel-E-Rennen, das die Welt je gesehen hat."
Die wachsende Popularität der Elektrorennserie hat viele Gründe. Die Rennen werden in den Innenstädten quasi vor der Haustür der Motorsportfans ausgetragen, das Fahrerfeld zählt zu den stärksten im Rennzirkus. Viele namhafte Hersteller sind schon jetzt dabei oder werden spätestens zur kommenden Saison einsteigen. „BMW, Audi, Porsche, Mercedes – die bringen alle immer mehr Hersteller-Support ein. Ich weiß gar nicht, ob es im Racing-Bereich schon einmal etwas Vergleichbares gegeben hat", sagt Rosberg. „Dass die vier großen deutschen Premium-Marken in einem Format gegeneinander antreten, das klingt für mich verdammt aufregend."
Zuschauerzahlen steigen stetig
Vor allem aber ist in der Formel E – anders als in der Formel 1 – nicht von vornherein klar, wer am Ende gewinnt. In der Königsklasse gibt es mit Mercedes, Ferrari sowie mit Abstrichen vielleicht noch Red Bull-Honda nur zwei beziehungsweise drei Teams, die eine realistische Siegchance haben. In der Formel E sind die Leistungsunterschiede bei Weitem nicht so gravierend – dort den Sieger vorhersagen zu wollen, gleicht einem Glückspiel. In den ersten neun Rennen dieser Saison gab es acht verschiedene Sieger, und nur zwei Mal gewann der Pilot, der bereits nach dem Qualifying vorn lag. Als einziger Fahrer hat der Franzose Jean-Eric Vergne bislang mehr als ein Rennen gewonnen – der Champion des Vorjahres liegt auch in dieser Saison wieder in Führung, allerdings nur hauchdünn. „Das ist die offenste Meisterschaft im Motorsport aller Zeiten", meint Formel-E-Chef Alejandro Agag. Und der Brasilianer Lucas di Grassi (Audi) prognostizierte bereits: „Selbst im letzten Rennen wird noch ein halbes Dutzend Fahrer die Chance haben, den Titel zu gewinnen."
Mittendrin im Meisterschaftskampf ist auch ein Deutscher: André Lotterer vom DS Techeetah Team. Vor dem Rennen in Berlin liegt der Duisburger nur einen Punkt hinter dem Führenden Vergne. Zwar hat Lotterer in dieser Saison selbst noch kein Rennen gewonnen, doch dafür punktet er mit großer Konstanz. In Rom und Paris war er zuletzt zweimal hintereinander Zweiter, in Sanya (China) Vierter. In Hongkong lag Lotterer bis kurz vor Schluss in Führung, ehe ihm Sam Bird mit einem zweifelhaften Manöver den Reifen aufschlitzte. Mit einem Platten rollte Lotterer zwar ins Ziel, doch der Sieg war futsch. „Das war ein ekliger Move – so sollten wir nicht gegeneinander Rennen fahren. Es war nicht fair, ganz und gar nicht", schimpfte er.
„Ich hoffe, ich habe mir meinen ersten Sieg einfach für Berlin aufgehoben", sagt Lotterer. Das Auto jedenfalls sei spitze, was auch der Blick in die Teamwertung verdeutlicht, die Techeetah derzeit anführt. „Wir sind eigentlich immer mehr oder weniger vorne mit dabei", sagt Lotterer. Und das kann angesichts der Ausgeglichenheit der Serie wahrlich nicht jede Mannschaft von sich behaupten.
„Ich habe mir meinen ersten Sieg für Berlin aufgehoben"
Neben André Lotterer warten auch einige andere namhafte Fahrer noch auf ihren ersten Saisonsieg. Oliver Rowland (Großbritannien), Ex-Formel-1-Mann Felipe Massa, der Schweizer Sebastien Buemi als Meister von 2016 oder die beiden Deutschen Pascal Wehrlein und Daniel Abt haben allesamt bereits bewiesen, dass mit ihnen zu rechnen ist. Abt hatte im vergangenen Jahr das Rennen in Berlin gewonnen und dabei Einmaliges erreicht: Er holte die Pole-Position, führte während des gesamten Rennens und fuhr zudem die schnellste Rennrunde – das schaffte in der Geschichte der Formel E noch niemand. „Das wird schwer zu toppen sein", meint Abt. Zumal es noch nie einem Fahrer gelungen ist, seinen Sieg in einer Stadt im darauffolgenden Jahr an gleicher Stelle zu verteidigen.
In dieser bislang so verrückten Saison ist aber auch das nicht völlig auszuschließen. Mittlerweile hat selbst Ex-Formel-1-Boss Bernie Ecclestone seine Liebe erklärt, der sich anfangs noch vehement gegen die Elektroflitzer gewehrt und Witze darüber gerissen hatte. Doch wenn er sich heute entscheiden müsste, würde er wohl die Formel E wählen, erklärte Ecclestone kürzlich. „Es ist eine andere Form der Unterhaltung, aber die Formel E wird viel, viel größer und besser werden", sagte er. Ein echter Ritterschlag. Oder um noch einmal den Videotrailer mit den beiden Modellautos aufzugreifen: „Playtime is over". Schluss mit lustig.