Es ist Bewegung in die Parteienlandschaft gekommen. „Es gibt keine starren Strukturen", sagt Anke Rehlinger, stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Landesvorsitzende im Saarland. Sie warnt im Wahlkampf vor einem „Streit um des Streites willen".
Frau Rehlinger, nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird über die Möglichkeit einer „Ampel" nach der Bundestagswahl diskutiert. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl: Wie realistisch ist die Diskussion über eine Regierungsbildung ohne Beteiligung der Union?
Die Ergebnisse der Landtagswahlen lassen diese Diskussion zu. Dass die Ampel ein Modell ist, das funktioniert, haben wir in den vergangenen Jahren in Rheinland-Pfalz gesehen, und das hat ja jetzt eine Bestätigung erfahren. In Rheinland-Pfalz hat Malu Dreyer deutlich gemacht, dass sie das fortsetzen will. Jetzt ist es an Winfried Kretschmann und seinen Grünen in Baden-Württemberg, zu entscheiden, welche Politik er für sein Land in den nächsten Jahren machen möchte.
Es stellt sich die Frage, ob man aus den Ergebnissen zweier Landtagswahlen sechs Monate vor einer Bundestagswahl weitreichende Rückschlüsse auf die Stimmungslage ziehen kann.
Aus Landtagswahlen Schlüsse auf die Stimmungslage im Bundesgebiet zu ziehen, halte ich für überbewertet. In der Tat sind es zunächst einmal Landtagswahlen. Gleichwohl sind es zwei Wahlen in nicht ganz kleinen Ländern, die vor allem gezeigt haben, dass es keine starren Strukturen gibt und Große Koalition keine Zwangsläufigkeit ist. Es hat zudem gezeigt, dass in Krisenzeiten, in denen auch viel Kritik an Entscheidungen von Regierungen geäußert wird, nicht zwangsläufig extreme Kräfte gestärkt werden. Die AfD hat nicht gewonnen, sie hat sogar verloren, 90 Prozent der Menschen sehen in der Alternative für Deutschland eben keine Alternative in der Politik. Das ist aus diesen Ergebnissen genauso abzuleiten.
Die SPD hat für die Bundestagswahl vorgelegt, personell mit dem Kanzlerkandidaten und inhaltlich mit einem Programm. Ist es müßig zu fragen, ob das nun eher Vorteil oder Nachteil, klug oder gewagt war?
Ich glaube, die SPD ist so gut aufgestellt wie seit Jahren nicht. Wir haben ein klares Angebot, wir haben mit Olaf Scholz genau den Richtigen, um Deutschland in der Krise wieder auf einen erfolgreichen Pfad zu führen. Wir haben Klarheit im Programm. Was es heißt, genau das nicht zu erfüllen, kann man mit Blick auf die CDU sehen. Die hat kein Abo auf Regierung. Sie steht in einer Orientierungskrise, sowohl was die Personalfrage als auch was die Inhalte angeht. Insofern ist es wertvoll, wenn die SPD in beiden Punkten klar aufgestellt ist.
Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans hat in einer Reaktion auf die Wahlausgänge davon gesprochen, Deutschland stehe vor großen „Umwälzungen". Zeigen die Ergebnisse nicht eher einen Wunsch nach Bewährtem und nach Stabilität als nach „Umwälzung"?
Deutschland steht auf jeden Fall vor großen Umwälzungen in der Sache. In einer solchen Zeit braucht es Stabilität, ja. Aber es braucht vor allem einen klaren Kurs, um weiter Stabilität zu schaffen. Wir brauchen also Verantwortliche, die den Herausforderungen gewachsen sind. Eine CDU-Politik nach dem Motto „Wir warten mal ab und lassen den Märkten freies Spiel" wird dem sicherlich nicht gerecht. Was wir brauchen, ist Gestaltungspolitik, wie sie Olaf Scholz im Blick hat.
Olaf Scholz hat an dieser Stelle vor Kurzem gesagt: Es wird Zeit für einen sozialdemokratischen Kanzler. Wie weit ist der Weg dorthin?
Olaf Scholz lässt keinen Zweifel daran, dass er Kanzler kann und dies gut für Deutschland wäre. Dass das möglich ist, dafür gibt es Anzeichen, insbesondere abgeleitet aus diesen Wahlen. Das Rennen für die Bundestagswahl ist komplett offen. Die Wähler wissen noch gar nicht, wen sie bei der Union und den Grünen zu erwarten haben. Alles ist möglich. Eine der Möglichkeiten hat Olaf Scholz genannt – damit wissen die Wählerinnen und Wähler, wo sie dran sind.
Die SPD bietet derzeit ein im Vergleich zu früheren Jahren ungewohnt geschlossenes Bild. Was hat sich da verändert?
Es gibt eine klare Ausrichtung, und vielleicht ist erkannt worden, dass das viele Hin und Her und der Streit in der Öffentlichkeit dem Bild der SPD eher geschadet haben. Wenn das die Erkenntnis ist, die jetzt zum Bild der Geschlossenheit nach außen führt, ist das gut. Was ja nicht heißt, dass nicht innerhalb der SPD diskutiert wird, wie man den Herausforderungen derzeit gerecht wird. Das ständige Kritisieren der eigenen Führungsspitze in der Vergangenheit hat jedenfalls nicht geholfen. Man sieht gerade in Rheinland-Pfalz: Eine professionell aufgestellte SPD mit einer erfahrenen Spitzenkandidatin, die geschlossen unterwegs ist, ist ein Erfolgsrezept.
Gleichzeitig wird der Tonfall zwischen den Koalitionspartnern immer ungemütlicher, was kein gutes Bild der Regierungsarbeit abwirft.
Wir befinden uns nach wie vor in der größten Krise unseres Landes. Daran haben Landtagswahlen nichts geändert, und daran ändert die Bundestagswahl nichts. Dessen sollten sich alle bewusst sein. Natürlich geht es um Wahlauseinandersetzung, aber vor allem geht es darum, das Große und Ganze im Blick zu behalten und diese Krise zu meistern. Dazu gehört eben auch ordentliches Regierungshandeln. Dort, wo man der Auffassung ist, dass etwas schiefläuft, muss man das sagen. Das erwarten die Menschen. Es geht ja nicht darum, sich unterzuordnen und Entscheidungen zu akzeptieren, auch wenn man sie für falsch hält und es bessere Alternativen gibt.
Die sogenannte Maskenaffäre hat für erheblichen Ärger gesorgt. Das betrifft zwar zunächst einmal die Union, aber trifft der damit ausgelöste massive Vertrauensverlust nicht letztlich insgesamt „die Politik"?
Zunächst einmal muss man sagen, dass das, was dort von Unionspolitikern gemacht worden ist, ein schwerer Vertrauensbruch ist. Wer sich an der Not anderer bereichert, verhält sich schändlich. Klar ist aber: Man hätte Strukturen schaffen können, um so etwas vielleicht zu verhindern. Es ist also nicht nur eine Frage der Verfehlung einzelner, sondern eine Grundsatzfrage, eine Frage der Transparenz. Wie schafft man Transparenz in Parlamenten darüber, wer sich welchen Dingen am ehesten verpflichtet fühlt? Bislang hat die Union blockiert, wenn es darum ging, solche Transparenzstrukturen zu schaffen. Das war, wie man sieht, ein Fehler. Ich hoffe, es gibt jetzt ein Umdenken, damit man Vorkehrungen treffen kann, dass sich so etwas nicht noch einmal wiederholt. Man muss sehr darauf achten, dass nicht nur einzelne zur Rechenschaft gezogen werden, sondern dass die Gefahr gebannt wird, dass das gesamte politische System und damit die Akzeptanz von wichtigen und notwendigen Entscheidungen leidet.
Die allgemeine Stimmungslage war auch vorher schon schwierig, Stichwort Spaltung der Gesellschaft. Der Tonfall der Auseinandersetzungen in der Gesellschaft insgesamt wird zunehmend ruppiger. Was kann man dem entgegenhalten?
Viele Menschen stehen wirklich unter Druck, sei es in der Situation zu Hause, wo es Belastungen gibt, sei es, weil sie in finanziellen Nöten sind, weil sie Existenzängste haben, weil sie Angst um ihre Gesundheit oder die ihrer Lieben haben. Das Ganze sucht sich natürlich ein Ventil, und das läuft dann ganz oft über die sozialen Medien, die sich dann nicht so sozial präsentieren durch das, was dort geäußert wird.
Da kommen zwei Dinge zusammen: die Belastungen und ein Ort, wo man glaubt, ganz ungehemmt Meinungen und Unmut kundtun zu können. Unmut muss man immer kundtun können. Aber es gibt trotzdem immer noch ein paar Regeln, wie man miteinander umzugehen hat. Hass ist keine Meinung, Beschimpfungen bleiben Beschimpfungen. Das trägt am Ende nicht dazu bei, dass Solidarität und Zusammenhalt gestärkt werden, sondern dass sich Kräfte gegeneinanderstellen. Das ist das Letzte, was man in einer Krise gebrauchen kann. Da entwickelt man eher Stärke, wenn man zusammensteht. Daran müssen wir arbeiten, und das ist eine Aufgabe der Politik: zuhören auf der einen, erklären auf der anderen Seite. Wir müssen deutlich machen, welche Widersprüche es aufzulösen gilt und dass das Große und Ganze gelegentlich andere Entscheidungen erfordert, als wenn man immer nur einen Teilaspekt berücksichtigen muss. Das ist keine ganz einfache Aufgabe, aber sie muss gelingen, weil sonst am Ende eine tiefe Spaltung der Gesellschaft stehen würde. Das wäre eine Spätfolge, die es dringend zu vermeiden gilt.
Der Bundespräsident bringt sich an dieser Stelle immer wieder ein, was gesellschaftlichen Umgang betrifft, auch in der Maskenaffäre. Müsste er das nicht noch öfter tun?
Frank-Walter Steinmeier ist wirklich gut unterwegs, indem er sich in der Rolle des Bundespräsidenten nicht in ein Dauerfeuer begibt, aber immer dann, wenn er überzeugt ist, einen Hinweis geben zu müssen, seine Stimme erhebt. Und das mit sehr viel Empathie und einem großem Blick für die Gesellschaft. Ich glaube, dass die Worte des Bundespräsidenten an Gewicht verlieren
würden, wenn er das allzu oft macht. Ich finde, er macht das sehr klug und sehr einfühlend.
Wie geht Wahlkampf unter Bedingungen der Krise, wo man nicht weiß, wie es im Sommer aussehen wird, geschweige denn in der heißen Phase bis zum 26. September?
Niemand weiß, wie die Rahmenbedingungen sein werden. Natürlich geht es im Wahlkampf darum, mit den Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu kommen, über das zu reden, was anliegt, darüber, wo die Reise in unserer Gesellschaft hingehen soll, wie man die Zukunftsmissionen einer Gesellschaft, die sozial, digital und klimaneutral ist, erreichen will. Das kann nicht so gehen, wie wir das gewohnt waren, mit klassischen Infoständen, Versammlungen, Festen, bei denen man ins Gespräch kommen kann, gerade im Saarland. Viele werden auch noch intensiv mit Krisenmanagement beschäftigt sein. Man wird das also ganz spontan entscheiden müssen. Es kommt gerade bei diesem Wahlkampf in diesen Zeiten darauf an, zu zeigen, dass man nicht streitet um des Streitens willen, sondern dass es vor allem darum geht, Alternativen nebeneinanderzulegen. Vor allem geht es darum, wie und dass wir die Krise bewältigen, sonst nutzen die ganzen Konzepte nichts. Viele davon setzen nämlich erst nach der Krise an, und da müssen wir so schnell wie möglich hin.
Also keine amerikanischen Verhältnisse im Wahlkampf?
Wir haben gesehen, dass der Wahlkampf dort zu einer wirklich tiefen Spaltung der Gesellschaft geführt hat. Das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Was nicht heißt, dass man nicht unterschiedliche politische Ansätze nebeneinanderlegen muss. Da sind wir Sozialdemokraten mit einem Ansatz unterwegs: nicht nur Klimaschutz, sondern Klimaschutz sozial gestalten – als klassisches Beispiel dafür, dass man die Dinge zusammenführen muss. Wir leben in einer vernetzten Gesellschaft und nicht in unterschiedlichen Chatgruppen nebeneinander.