Die aktive Zivilgesellschaft war es, die die Politik allmählich verändert und zum Umsteuern gebracht hat. Professorin Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, sieht in den erneuerbaren Energien den zentralen „Impfstoff", den Klimawandel aufzuhalten.
Frau Kemfert, haben Sie den Eindruck, die Gesellschaft hat sich in diesem Jahr beim Thema Klimawandel verändert?
Der Klimawandel ist deutlich mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt, aber wohl in erster Linie durch die deutliche Zunahme von extremen Wetterereignissen, insbesondere die Überflutung im Ahrtal ist hier zu nennen. Spürbar werden aber auch deutlich heißere Sommer, mehr Tage mit sehr hohen Hitzeperioden, mehr Dürre und die Auswirkungen auf die Landwirtschaft und Wasserversorgung. All das ist bei den Menschen mehr und mehr spürbar. Da wir uns so global derzeit auf eine 1,5 Grad globale Erwärmung zur Temperaturerhöhung hin bewegen, war zu erwarten, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und überall auf der Welt derartige extreme Hitze-Ereignisse, extreme Stürme und extreme Dürren zunehmen werden. All dies verursacht enorme volkswirtschaftliche Schäden, die auch deutlich spürbar werden. Erkennbar ist dies auch in den Umfragen, die belegen, dass die Gesellschaft das Thema Klimawandel sehr ernst nimmt, und große Sorge vor der Zukunft hat.
Was ist noch zu retten, wo ist es schon zu spät?
Die Weltgemeinschaft hat sich darauf verständigt, durch das Abkommen von Paris, die globale Oberflächentemperatur deutlich unter zwei Grad Temperaturerhöhung bis zur Mitte des Jahrhunderts zu begrenzen. Dazu ist es noch nicht zu spät. Doch die Erreichung des 1,5-Grad-Zieles wird immer schwerer. Wie die letzte Klimakonferenz in Glasgow gezeigt hat, ist es durchaus gemeinschaftlicher Wille, dies zu erreichen. Erste wichtige Schritte in die richtige Richtung wurden unternommen. Der Beginn des Ausstiegs aus der Kohle wurde beschlossen. Dies zeigt sich auch in den Äußerungen Chinas, international keine Kohlekraftwerke mehr zu finanzieren. Spätestens seit dem Klimapakt von Glasgow werden die finanziellen Risiken durch fossile Energien und auch durch den Klimawandel mehr und mehr transparent. Es ist sehr wichtig umzusteuern. Es geht darum, ab heute keine Investitionen mehr in fossile Energien, sondern nur noch in erneuerbare Energien zu tätigen. Soweit sind wir leider trotz vieler und globaler Bemühungen noch nicht.
Wie fühlen Sie sich selbst als Wissenschaftlerin, die immer wieder sagt, was uns in Sachen Klimawandel erwartet? Als einsame Ruferin in der Wüste?
Nein, ich bin ja weder einsam noch allein. Weltweit mahnen die Wissenschaftler seit über 40 Jahren vor den Folgen des Klimawandels. Zuletzt der deutsche Physiker und Nobelpreisträger Klaus Hasselmann, der seit über 40 Jahren vor den Folgen des Klimawandels warnt. Die Wissenschaft fasst seit über 25 Jahren ihre Ergebnisse und auch Mahnungen in internationalen Berichten alle vier Jahre im Rahmen des Intergovernmental panel on climate change (IPCC) zusammen. Und die Ergebnisse werden immer deutlicher, die Mahnungen immer eindringlicher: Wir müssen umsteuern, bevor es zu spät ist. Wir alle fühlen die Dringlichkeit des notwendigen Handelns.
Die Politik hat nicht reagiert, als Wissenschaftler bei Corona exakt voraussagten, was uns im November/Dezember erwartet. Wird das beim Klimawandel ähnlich sein?
Es ist beim Thema Klimawandel schon genauso. Und das seit über vier Jahrzehnten. Die Wissenschaft ist sehr deutlich und warnt seit über einigen Jahrzehnten vor dem Klimawandel. Die Politik hat bisher entweder gar nicht zugehört, zu halbherzig, oder war sogar teilweise zumindest global mit der fossilen Industrie sehr stark verwoben. In erster Linie durch die Rufe der Zivilgesellschaft ändert die Politik allmählich ihr Verhalten. Dies ist ein zentraler Kipping Point: die aktive Zivilgesellschaft, die mehr Klimaschutz von der Politik einfordert. Man kann nur hoffen, dass die Politik rechtzeitig reagiert. Denn anders als bei Corona kann das Klima nicht „weggeimpft" werden. Bei Überschreitung der irreversiblen Kipppunkte wird der Planet unbewohnbar. Der zentrale Impfstoff, die erneuerbaren Energien, liegen uns schon seit Jahrzehnten vor. Sie werden allerdings nur halbherzig ausgebaut und umgesetzt. Das muss schneller gehen. Insofern gibt es sehr viele Parallelen zwischen Corona und Klimawandel, und wir müssen entsprechende Lehren daraus ziehen. Flatten the Curve muss das Motto sein: Flacht die Kurve ab.
Die großen Unternehmen fordern selbst eine Änderung der Klimapolitik. Heißt das, der Markt wird es langfristig richten, weil es mit fossiler Technik nichts mehr, aber mit Ökologie mehr zu verdienen gibt?
Klimaschutz schafft enorme volkswirtschaftliche Chancen, keine Frage. Aber die Märkte allein werden es nicht richten können, der Klimawandel ist ein Marktversagen. Wir benötigen eine kluge Regulierung, die den Unternehmen einerseits hilft zu investieren, fossile Risiken transparent macht, aber vor allen Dingen auch Unternehmen zu mehr Gemeinwohl-Ökonomie zwingt.
Ist also das Klima durch technologiezentrierte Maßnahmen zu retten oder müssen wir grundsätzlich umdenken, zum Beispiel nicht nur E-Auto, sondern völlig neues Verkehrskonzept?
Klimaschutz erfordert einen breiten Maßnahmen-Strauß: Es geht um den Ausbau des Schienenverkehrs, es geht um die Stärkung des ÖPNV. Es geht um die finanzielle Förderung der energetischen Gebäudesanierung, es geht um den Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber auch um eine Abkehr von Überkonsum und verschwenderischem Verkehr. Die Verkehrswende ist nur zu erreichen mit einer Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung und Verkehrsoptimierung. Verkehrswende bedeutet nicht einfach den Motor auszutauschen und statt einem fossilen Verbrennungsmotor einen Elektromotor einzubauen. Wir benötigen weniger Fahrzeuge, die durchschnittlich am Tag 23 Stunden lang herumstehen und wertvolle Flächen und Infrastrukturen benötigen. Wichtiger sind Dienstleistungen, die Mobilität
für alle zu erschwinglichen Preisen attraktiv zu jeder Tageszeit anbieten. Dazu ist auch die Digitalisierung zentral. Somit geht es um einen Mix an Technologie spezifischen Maßnahmen, Suffizienz und klugen Rahmenbedingungen für Veränderung.
Länder wie China oder auch Südkorea kommen mit autoritären Maßnahmen besser durch als die Demokratien – was können wir von denen lernen?
Ist das so? Das wage ich zu bezweifeln. Wir benötigen nicht mehr Ökodiktatur, sondern mehr Demokratie. Nur die breite Beteiligung der Bevölkerung, das Einbringen der Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse, können mehr Klimaschutz voranbringen. Zahlreiche Studien belegen, dass Klimaschutzmaßnahmen in Demokratien erfolgreicher sind.
Was vermitteln Sie den Menschen in den Industrieländern? Dass sie Enthaltung üben und auf einige Annehmlichkeiten verzichten müssen?
Die Frage ist, wie man Annehmlichkeiten definiert. In einer Welt mit sauberer Luft, sauberem Wasser, gesund und frei miteinander leben zu dürfen, sind nicht hoch genug zu wertschätzende Annehmlichkeiten. Und genau darum geht es beim Klimaschutz: Wir verzichten auf die Umweltschädigung, auf die Klimaschädigung, auf schmutziges Wasser, auf schmutzige Luft, auf Gesundheitsschäden durch Feinstaub, die uns nicht nur das Leben, sondern auch die Freiheit rauben. Klimaschutz schafft Freiheit. Klimaschutz schafft saubere Städte, saubere Luft und soziale Gerechtigkeit. Das sind genau die Annehmlichkeiten, um die es uns allen gehen sollte.