Sozialverbände, Hilfsorganisationen und ehrenamtliche Mitarbeiter warnen: Die Situation für Wohnungslose in Deutschland wird immer dramatischer. Immer mehr leben auf der Straße, doch die Hilfsangebote werden weniger, was innerhalb der Szene zu Verwerfungen führt.
Jeden Tag rasen Hunderttausende Autos über die Brücken an einem der dicht befahrensten Autobahnkreuze Deutschlands im Herzen des Berliner Westens. Was viele Autofahrer nicht wissen: Unter ihnen, zwischen der A 100 und der Bahntrasse, gibt es eine eigene Welt, in der Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft leben. Direkt unter einer Auffahrtrampe zur Stadtautobahn liegen, vor Regen geschützt, gut 30 unbezogene Schaumstoff-Matratzen ordentlich in Viererreihen sortiert. Die „besten Plätze“ sind oben, direkt an der Betonwand der Unterseite der Rampe. Hier ist es zumindest etwas windgeschützt. Die Schlafplätze sind teilweise mit Pappen oder zerstückelten Europaletten eingerahmt, was in dieser Tristesse aus grauem Beton offenbar für ein wenig Intimität bei der Nachtruhe sorgen soll. In den umliegenden Büschen hängen Plastiktüten, vollgestopft mit Habseligkeiten der nächtlichen Bewohner. Im Sommer fallen sie nicht auf, aber in diesen ersten Märztagen bei drei Grad fehlt noch das grüne, vor Blicken schützende, Blattwerk.
Ein Leben in Tristesse aus grauem Beton
Versteckt in einer Senke Richtung Bahndamm stehen Einkaufswagen, ebenfalls vollgepackt mit Kleidungsstücken, völlig verdreckten und zerlumpten Schlafsäcken oder irgendwelchen Kartons. Leben in der großstädtischen Wildnis unter der A 100 und dem Bahndamm. Von den nächtlichen Bewohnern ist an diesem Vormittag niemand da. Nach einer verregneten Nacht ist nun die wärmende Sonne herausgekommen. „Na, die werden sich jetzt in einem der umliegenden Parks in der Sonne aufwärmen und ihre Klamotten trocknen“, berichtet ein „Streckenläufer“ der Bahn. Seinen Namen will er lieber nicht nennen und auch nicht fotografiert werden. „Ich bin eigentlich gehalten, solche illegalen Ansiedlungen umgehend zu melden, weil diese ja auch den Bahnverkehr gefährden könnten. Aber das macht irgendwann keinen Sinn mehr, weil allein entlang der Bahntrassen in den letzten Jahren Hunderte solcher Schlafstätten entstanden sind. Da würde ich nur noch Meldungen schreiben“, erzählt der Endvierziger. Das Besondere an dieser Ansiedlung: Hier leben Menschen, die es offiziell gar nicht gibt. Es sind Geflüchtete, die sich entweder nach ihrer Ankunft in Deutschland gar nicht erst gemeldet haben oder keinen Aufenthaltsstatus haben und ihnen deshalb die Abschiebung droht. „Wenn sie so wollen, sind das hier Obdachlose dritter Klasse. Illegal in Deutschland, immer in Angst entdeckt zu werden. Darum hauen sie morgens, wenn es hell wird, auch sofort ab und verteilen sich tagsüber in den umliegenden Grünflächen.“ Dabei weist der Bahnmitarbeiter auf eine Besonderheit hin.
Das komplette Autobahn- und Bahngelände liegt im Geltungsbereich der Bundespolizei. Berliner Polizisten dürfen hier nur im absoluten Notfall eingreifen, aber nicht als Ordnungskräfte tätig werden. Die Bundespolizei wiederum greift nur bei Gefahr in Verzug ein. „Das muss den Leuten irgendjemand gesteckt haben, dass sie hier halbwegs vor Zugriffen der Polizei geschützt sind, wenn keine Gefahr von ihnen ausgeht.“ Darum, so der „Streckenläufer“ bei der Bahn, würde unter den Bewohnern drauf geachtet, dass es ruhig bleibe und sie damit quasi für die Öffentlichkeit unsichtbar sind.
Häuslich eingerichtet auf dem Straßenpflaster
Ortwechsel, nur eine S-Bahnstation weiter, am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg. Unter der beinahe 40 Meter langen Beton-Bahnbrücke an der Lewishamstraße liegen ebenfalls die Schaumstoffmatratzen ordentlich aneinandergereiht auf dem breiten Bürgersteig. Direkt an einer wichtigen Verkehrsmagistrale im Berliner Westen. Doch hier sieht es wesentlich „wohnlicher“ oder „eingerichteter“ aus. Fast alle Matratzen sind bezogen, darauf liegen ordentlich Kopfkissen und Bettdecke, teilweise schaut ein Plüschtier unter der Decke hervor. Daneben ein Pappkarton als Nachttisch oder ein Einkaufswagen mit dem verbliebenden Hausrat, sozusagen der Kleiderschrank. Hier haben sich die Bewohner auf dem Straßenpflaster unter der Brücke buchstäblich „häuslich“ eingerichtet, soweit das eben unter diesen Bedingungen geht. Der Eindruck bestätigt sich spätestens in dem Augenblick, in dem eine Frau den FORUM-Fotografen angeht. „Sie dürfen hier keine Bilder machen, Sie verletzten das Hausrecht der Bewohner.“ Der Fotograf hat seinen Job ordentlich gemacht, keine Personen gegen ihren Willen fotografiert, sondern nur deren Unterkunft. „Das ist aber ihre Privatsphäre, bei Ihnen kann ja auch nicht irgendjemand in ihre Wohnung kommen und einfach Fotos machen.“ Die Frau stellt sich als Sozialarbeiterin vor, nennt weder ihren Namen und auch nicht ihren Träger, für den sie tätig ist. Offensichtlich die gute Seele aus der umliegenden Nachbarschaft für die Wohngemeinschaft unter der Stahlbetonbrücke an der extrem befahrenen Straße. Obdachlose zweiter Klasse, wenn man so will: Menschen, die hier in der Öffentlichkeit leben, die keine Angst vor Entdeckung und damit zum Beispiel einer drohenden Abschiebung haben müssen.
Beinahe alle verfügen über einen EU-Pass, die meisten aus osteuropäischen Mitgliedstaaten, wie man dem Sprachgewirr zweifellos entnehmen kann. Unter ihnen ist Jurijs Iermaitons aus Lettland. Er ist seit 14 Jahren in Deutschland, und seitdem lebt er in Berlin auf der Straße. „In Lettland gab es keine Arbeit für mich, und da bin ich nach Berlin gekommen. Hier ist es besser, ich kann von dem, was ich hier an Spenden bekomme, leben.“ Dem 45-Jährigen sieht man die 14 Jahre „Platte“ in Berlin an. Er wirkt mindestens zehn Jahre älter, die Zähne sind nur noch bessere Ruinen. Doch er hat seinen Stolz nicht verloren. Beim Fotografieren achtet er darauf, den Mund geschlossen zu halten, er will einen guten Eindruck machen. „Einmal die Woche gehe ich zu Bahnhofsmission, dort kann ich mich mal richtig waschen und bekomme auch mal frische Kleidung, wenn ich welche brauche“, erzählt Jurijs Iermaitons in gebrochenem Deutsch. Sein direkter Nachbar Wjatschow unter der Brücke kommt ebenfalls aus Lettland und ist gerade unterwegs Flaschen sammeln. Vor seinem ordentlich gemachten Bett steht ein Pappschild und eine alte Konservendose als Spendenbox, in der ein paar Cent liegen.
„Ich bitte um Spende, ich habe Kinder“ steht auf dem Schild. Auf Nachfrage bestätigt Jurijs: Er hat wirklich Kinder und schickt seiner Frau auch immer Geld, mit Flaschensammeln und Spenden hier in Berlin gehe das. „In Lettland wäre das unmöglich.“ Die Frage, warum sie nicht versuchen, ein Bett in einer Obdachlosenunterkunft zu bekommen, sozusagen in die erste Klasse der Wohnungslosen aufzusteigen, kann an diesem Vormittag nicht beantwortet werden. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass es viel zu wenig solcher Plätze gibt, scheint es aber auch der Umstand zu sein, dass sich Jurijs, Wjatschow und all die anderen unter der Bahnbrücke dort auch an Regeln halten müssten, was offensichtlich nicht so ihr Ding ist. Hier draußen sind sie freier, auch wenn es kalt und nass ist.