Auf der brandneuen Rennstrecke von Miami im US-Bundesstaat Florida feiert die Formel 1 am 8. Mai Premiere. Ferrari-Star Charles Leclerc reist zwar als WM-Führender an, erlebte aber beim Heimspiel der Roten in Imola die Schattenseite im Giganten-Kampf um den Titel.
Ausgerechnet im Ferrari-Land musste der rote Hoffnungsträger Charles Leclerc die bittere Pille einer herben Niederlage schlucken. Dabei hatten sich die 100.000 Tifosi im ausverkauften Autodromo Enzo e Dino Ferrari in Imola nichts Sehnlicheres als einen Sieg ihres neuen Helden gewünscht. Der letzte Ferrari-Triumph in der Emilia Romagna liegt 16 Jahre zurück. 2006 feierte Rekordweltmeister Michael Schumacher seinen siebten Sieg auf dieser Berg- und Talbahn. Nach zwei Saisontriumphen in drei Rennen sollte Leclerc seine Hochform bestätigen. Doch „Karl der Große" verzockte sich, übertrieb es, wollte zu viel, war zu aggressiv, wollte unbedingt aufs Podium.
Zehn Umläufe vor Schluss, in Runde 53 von 63, verliert Leclerc im Kampf um Platz zwei mit Sergio Perez (Red Bull) die Kontrolle über seinen Ferrari, kommt über die Randsteine, das Auto wird ausgehebelt, Leclerc dreht sich, hat Kontakt mit der Bande, kann aber mit verbogenem Frontflügel noch weiterfahren. Der wird in der Box gewechselt, Leclerc fällt auf Platz neun zurück, kämpft sich vor, betreibt am Ende mit Rang sechs Schadensbegrenzung. Die hoffnungsvollen Tifosi waren vollends bedient. Carlos Sainz im zweiten Ferrari versetzte die Italiener schon mit Rennbeginn in Schockstarre. Der Spanier, der seinen Ferrari-Vertrag um zwei Jahre bis Ende 2024 verlängert hat, wird nach einer unverschuldeten Kollision von Daniel Ricciardo (McLaren) in der ersten Runde in Kurve zwei ins Kiesbett gekegelt und hatte vorzeitigen Feierabend.
„Prinz Charles" gesteht bei Sky und RTL selbstkritisch: „Ich war zu gierig. Der Dreher war mein Fehler, den hätte ich nicht machen dürfen. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Platz drei war das Beste, was ich hätte tun können. Wir hatten nicht den Speed für sehr viel mehr." Mit Blick auf Rang drei hat der WM-Führende sieben potenzielle Punkte eingebüßt. Nebenbei: Am Ostermontag wurde Leclerc beim Autogramm-schreiben in einer schwach beleuchteten Straße in der ligurischen Küstenstadt Viareggio bei einem Überfall seine Luxusuhr im Wert von 320.000 Euro vom Handgelenk gestohlen.
Fette Beute machte auch der siegreiche Titelverteidiger Max Verstappen. Sieg im Samstag-Sprint (acht WM-Punkte), der die Startaufstellung für Sonntag vorgibt, Sieg im Grand Prix (25 Punkte) und schnellste Rennrunde (ein Punkt) – zusammen ergeben das 34 von 34 möglichen WM-Zählern für den Red Bull-Piloten. Besser ging’s nicht. Weil Leclerc im Sprint Zweiter (sieben Punkte) und im Rennen Sechster (acht Punkte) wurde, heißt es im WM-Zwischenklassement vor dem fünften Saisonlauf in Miami 86:59 für den Ferrari-Piloten. Verstappen hat also seinen Rückstand von 46 auf 27 Punkte verringern können. Ein grandioses Wochenende für den Niederländer, der mit einer makellosen, tadellosen Leistung seinen zweiten Saisonsieg und seinen insgesamt 22. GP-Triumph eingefahren hat. Stallgefährte „Checo" Perez machte als Zweiter die „Bullen"-Sause" im Ferrari-Land perfekt. Lando Norris komplettierte im McLaren das Podium.
Erste Punkte für Vettel
Für Red Bull war es der erste „Bullen"-Doppelsieg seit Malaysia 2016. Max im TV-Interview: „Wir brauchten dringend ein gutes Ergebnis, das ist uns in Imola gelungen. Ich glaube, wir haben ein perfektes Rennen gezeigt, ohne Fehler, wir haben strategisch alles richtig gemacht, auch beim Reifenwechsel. Es war aber unter diesen Wetterbedingungen nicht so einfach, wie es vor dem Fernseher ausgeschaut hat."
Ein weiterer „Sieger" heißt Sebastian Vettel. Mit einer starken fahrerischen Leistung fuhr der Regenspezialist im Aston Martin von Startplatz 13 auf Rang acht und sicherte sich und seinem Rennstall die ersten vier Saisonpunkte. Sein Teamkollege Lance Stroll überzeugte mit Platz zehn und holte seinen ersten WM-Punkt. Der viermalige Champion Vettel konnte es kaum glauben, „aber dieser achte Platz, wo das Auto eigentlich nicht hingehört, fühlt sich für uns wie ein Sieg an. Nachdem er sich zuvor bei RTL die Schulnote sechs für seinen desaströsen Auftritt in Australien gab, bewertete er sein Imola-Rennen mit dem „Gegenteil, einer Eins". Fazit des Hessen: „Diesen Schwung müssen wir nutzen, damit es in die richtige Richtung geht, denn die nächsten Rennen werden hart. Das Auto ist immer noch schwierig zu fahren, selbst auf den Geraden." Lobende Worte für seinen Landsmann fand Sky-Experte Ralf Schumacher: „Wenn Sebastian den Unterschied machen kann, ist er da. Wenn es schwierig wird, kann er aus seinem Auto das beste herausholen." Für regelmäßige Top-Ten-Platzierungen ist der Aston Martin aber noch nicht gut genug. Schumacher geht in seiner Sky-Kolumne davon aus, dass Imola erst einmal eine Eintagsfliege war. „In Miami erwarte ich den Aston Martin nicht so gut", blickt er auf das nächste Rennen voraus.
Kritik übt der Experte an seinem Neffen Mick Schumacher. „Er hat zu viele Fehler gemacht. Zwei Dreher in einem Rennen ist zu viel. Mick muss jetzt einfach die Erfahrung sammeln und es besser machen. In den nächsten Rennen muss er auch einmal vor seinem Haas-Teamkollegen Kevin Magnussen landen. Der Däne wurde nach Startplatz acht Neunter, der Deutsche kam nach seinem besten Startplatz zehn abgeschlagen auf Rang 17. Nach seinem 25. F1-Rennen ist Mick Schumacher noch ohne WM-Punkt. Größtes „Sorgenkind" unter den Top-Piloten ist derzeit der siebenmalige Weltmeister Lewis Hamilton. Der Mercedes-Pilot erlebt mit seinem Team gerade eine Schlappe biblischen Ausmaßes. In Imola erlebte er eine Horrorshow. In der Quali für den Sprint 13., im Sprint-Rennen 14. und im Hauptrennen 13. Und die Demütigung blieb nicht aus. In Runde 41 musste er sich auch noch von Erzrivale Verstappen überholen lassen. Die ultimative Schmach. „Es ist so alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte, das war ein Wochenende zum Vergessen", so ein enttäuschter siegesverwöhnter Fahrer. Da nutzte es auch wenig, wenn sein Boss Toto Wolff sich nach der Zieldurchfahrt am Boxenfunk persönlich bei seinem Star-Piloten für das schlechte Auto entschuldigte: „Es ist unfahrbar." Bei Hamilton reift die Erkenntnis: Um seinen achten WM-Titel kann er nicht mitkämpfen. „Ich bin raus aus der Weltmeisterschaft, das ist klar", so der 37-Jährige nach den jüngsten Rückschlägen bei Sky. Wolffs Erkenntnis beim gleichen TV-Sender: „Ich glaube, dass wir um Platz drei bei der Konstrukteurs-WM mitfahren können, aber mehr nicht."
Russell als Punktelieferant
Einmal mehr hat Neuzugang George Russell für Mercedes die Kohlen aus dem Feuer geholt. Der Jungspund fuhr mit Glück und Geschick auf den beachtlichen vierten Platz. Der aufstrebende Brite holt aus dem Silberpfeil das Maximum heraus, erweist sich als Punktelieferant und -garant. Der 24-Jährige ist der einzige Fahrer, der bisher jeden Sonntags-Grand Prix in den Top-Fünf beendet hat. In der Fahrer-WM rangiert Russell mit 49 Zählern auf Platz vier – fette 21 Punkte vor seinem Chefpiloten Lewis Hamilton (28), der als WM-Siebter im Zwischenklassement landet. In der Konstrukteurs-WM belegt Mercedes Platz drei mit 77 Punkten hinter Ferrari (124) und Red Bull (113). Bei der F1-Premiere in Miami (21.30 Uhr live bei Sky) können sich Zahlen und Fakten aber schnell ändern.
Nach dem Grand Prix in Imola jettete der ungebremste, auf Höchstgeschwindigkeit getrimmte rasende Rennzirkus über den großen Teich ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten – in die USA. Genauer: nach Miami im US-Bundesstaat Florida. In der kosmopolitischen Stadt mit einer halben Million Einwohnern an der Südspitze des Sonnenstaates macht die umtriebige, rastlose Formel 1 auf ihrer Weltreise über vier Kontinente erstmals Station. Die brandneue F1-Strecke ist der neue Highspeed-Tempel im Rennkalender. Ja, die Formel 1 ist ein Raubtier, ein Nimmersatt, der nie genug bekommen kann. Am 2. September 2021 wurde die Rennstrecke nach einer langen „Geburt" in „Miami International Autodrome" getauft. Der Kurs ist 5,41 Kilometer lang und schlängelt sich mit seinen 19 Kurven (sieben rechts, zwölf links) und drei Geraden um das „Hard Rock Stadium" in Miami Gardens, der Heimstätte des Football-Teams Miami Dolphins. Mit einem prognostizierten Top-Speed von 320 km/h sollen die Piloten dort angeschossen kommen, als Durchschnittsgeschwindigkeit gelten 222 km/h. Die Strecke befindet sich ausschließlich auf privatem Grund und Boden. Der Kurs nutzt daher keine öffentlichen Straßen und wird lediglich für die Dauer des Rennens aufgebaut. Im Anschluss an den Grand Prix wird die Rennstrecke wieder abgebaut und das Gelände in seinen ursprünglichen Zustand versetzt.
Bereits mehrere Jahre wurde versucht, die Formel 1 nach Miami zu holen. Doch Anwohner protestierten, weil sie erhöhte Umwelt- und Lärmbelästigung fürchteten. Noch sechs Wochen vor dem F1-Debüt wollten Anwohner das Rennen verhindern und klagten vor Gericht auf potenzielle Hörschäden wegen des Lärms. Ihre Klagen wurden zurückgewiesen. Miami ist bereits die elfte US-Rennstrecke in der 72-jährigen F1-Geschichte, auf der die F1-Boliden ihre Kreise ziehen. 2023 plant die Formel 1 sogar drei Auftritte in den USA: Mit Austin in Texas, Miami in Florida und Rückkehrer Las Vegas in Nevada. Von einer Übersättigung des Marktes in Nordamerika will F1-Boss Stefano Domenicali aber nichts wissen. Laut dem Italiener sollen die verschiedenen Läufe große Vorteile für das Geschäft der Königsklasse bringen. Früher hatten die US-Rennen und die Fahrer nur wenig Zugkraft, da die Formel 1 und ihre Helden weitgehend unbekannt waren.
Netflix als Formel-1-Pusher
Heute hat die „Champions League des Motorsports" dank des US-Streamingdienstes Netflix und seinen Folgen der Serie „Drive to survive" auch in den USA Fuß gefasst und der Formel 1 einen völlig unerwarteten Boom verschafft. „Vor drei Jahren war es noch schwierig, einen US-Grand Prix mit Fans zu füllen, jetzt werden wir zwei ausverkaufte Events haben", so F1-Strippenzieher Domenicali zur Situation in den USA. In Austin seien im vergangenen Jahr 400.000 Besucher an drei Tagen auf den Circuit of the Americas geströmt, um ihre Protagonisten zu sehen, erinnert der Italiener an die neue „F1-Kundschaft". Das Emirat Katar wird 2023 fester Bestandteil im heute schon rekordmäßig aufgeblähten Kalender mit 23 Rennen (einschließlich Sotschi-Ersatz). Mit China soll der Vertrag verlängert werden. Und Südafrika drängt 30 Jahre nach 1993 mit seiner Kyalami-Rennstrecke unbedingt in den Kalender. Weitere Interessenten aus Übersee stehen Schlange. Neue Rennstrecken – schön und gut für die Veranstalter und den Scheffel-Wahn der F1-Eigner Liberty Media. Dafür aber müssen Traditionsstrecken in Europa oder selbst legendäre Klassiker über die Klinge springen. Gemunkelt wird von Monaco, Spa/Belgien und Le Castellet/Frankreich. Diese Strecken gelten als Wackelkandidaten. Fakt für die „Neuordnung" im F1-Kalender: die niedrige Antrittsgebühr zwischen 20 und 30 Millionen Dollar für die Rennen in Europa.
Bei den neuen Strecken sind auch die Fahrer zwiegespalten. „Ich denke, es ist immer aufregend, an neuen Orten zu sein", so Sebastian Vettel. „Vorausgesetzt, es sind gute Orte, die richtigen Orte für uns", ergänzte der Aston Martin-Pilot. Andererseits will der viermalige Champion „aber auch nicht die Orte verlieren, an denen wir schon lange sind. Es wäre schrecklich, wenn Melbourne aus dem Kalender gestrichen werden würde. Es wäre schrecklich, elementare Strecken in Europa zu verlieren, die den Kern der Formel 1 ausmachen", legt Vettel nach. Nürburgring und Hockenheim werden im Konzert der Traditionsstrecken vorerst nicht mitgeigen.