Erst kürzlich hat es Eisenhüttenstadt in einem Ranking auf die Liste der 23 interessantesten Reiseziele weltweit geschafft. Die einstige DDR-Musterstadt nimmt auch bei der Veranstaltungsreihe „Kulturland Brandenburg“ zum Thema Baukultur einen prominenten Platz ein.
Leere Gebäude, besprühte Fenster, zerschlagene Türen, die vernagelte Front einer stillgelegten Kaufhalle, Graffiti, wild wachsende Sträucher, manche haben stattliche Baumgröße erreicht und zersprengen die farbigen Bodenplatten: Das ist der „Platz der Jugend“ im V. Wohnkomplex von Eisenhüttenstadt. Kaum ein Mensch ist zu sehen, ab und zu düsen Kinder mit dem Fahrrad einfach so durch, Mütter mit Kinderwagen wählen hier die Abkürzung zu einem der sanierten Wohnblöcke ringsum. Ein trister Platz ohne Leben, ein „Lost Place“.
Da blutet Martin Maleschka das Herz. Er kennt den Platz aus Kindertagen, ist in die Welt gezogen, um Architekt zu werden, hat seine wilden Jahre anderswo verlebt. Nun ist er wieder zurück und in eines der nahen Hochhäuser eingezogen. „Da oben hast du einen sagenhaften Blick über die Stadt und das Werk“, sagt er und meint die erste sozialistische Planstadt Eisenhüttenstadt, früher Stalinstadt, und das EKO, Eisenhüttenkombinat Ost, wie es früher hieß.
Triste Locations sollen wiederbelebt werden
„Platz der Jugend, klingt doch eigentlich gut,“ sagt Maleschka, ein cooler Typ mit Basecap und Vollbart. „Aber wo ist sie denn, die Jugend?“, fragt er sich im gleichen Atemzug. „Da muss was passieren! Und genau das machen wir jetzt.“ Seine Ideen packt er in ein Projekt, nennt es „Auf den Platz, fertig, los! Vom Platz der Jugend in die Zukunft“, schickt es an Kulturland Brandenburg und läuft dort offene Türen ein.
Denn das Themenjahr 2023 „Baukultur leben“ will genau das befördern, was Martin Maleschka vorschwebt: traurige Locations wie diesen Platz wiederzubeleben, möglichst dauerhaft.
Der Platz war früher das Zentrum des V. Wohnkomplexes: auf der einen Seite die Juri-Gagarin-Oberschule, 1963 gebaut für 1.000 Schulkinder, gegenüber die Kaufhalle „Hol fix“ mit viel Glas und goldfarbigen Aluminium-Schaufensterrahmen. Dazu ein Obst- und Gemüseladen, ein Schuhservice, die Stadtbücherei. Auch Kunst gehörte zum Gebäudeensemble. Noch heute ist links vom Schuleingang ein Keramikwandbild zu erkennen, das die Entwicklung der (sozialistischen) Gesellschaft zeigt – vom Streben nach Fortschritt bis hin zum Griff nach den Sternen. So hoffnungsvoll wie dieses Keramikwandbild war einst die ganze Stadt. Die junge DDR brauchte Schwerindustrie und suchte entlang der Oder nach einem Standort für ein Hüttenwerk. Die Wahl fiel auf die Kleinstadt Fürstenberg, gelegen in einer strukturschwachen Region, umgeben von minderwertigen Böden, aber gut erreichbar für Züge mit sowjetischem Erz und Steinkohle aus Polen. Mitten in der märkischen Kiefernheide wurden ab 1950 dann die ersten von sechs Hochöfen gebaut. An tatendurstigen jungen Leuten war kein Mangel.
Flüchtlinge, Vertriebene, Heimkehrer kamen aus allen Himmelsrichtungen. Sie suchten Arbeit und ein Dach über dem Kopf, um sich eine Existenz aufzubauen. Im Schnitt waren sie 27 Jahre jung. Für die Staatsführung der DDR war die Standortwahl auch eine politische Entscheidung. Hier sollte eine Musterstadt entstehen, eine „neue Stadt für neue Menschen“. Lange suchten die damaligen Städtebauer nach einem Baustil, der genau diesen neuen Geist verkörpern könnte. Die Zeit drängte. So entstand der erste Wohnkomplex mit schmucklosen langgezogenen Blöcken, relativ kleinen Wohnungen mit Ofenheizung.
Parteichef Walter Ulbricht, der der Stadt 1953 den Namen Stalinstadt verlieh, nahm die Neubauten persönlich in Augenschein und monierte ihre Schmucklosigkeit. Architekt und Stadtplaner Kurt W. Leucht suchte daher nach einem Kompromiss, und auch die Genossen aus der Sowjetunion mischten kräftig mit. So kann der II. Wohnkomplex stalinistische Einflüsse nicht verleugnen – breitere Straßenzüge mit gekrümmten Sichtachsen, Kapitelle und Säulen an Erkern und Durchgänge zu begrünten Innenhöfen.
Die Hinwendung zu nationalen Bautraditionen spielte in den Überlegungen der Stadtplaner ebenfalls eine Rolle und findet ihren Niederschlag besonders im III. Wohnkomplex. Hier wurden die Gebäude wieder etwas niedriger, bekamen Walmdächer und in Fachwerk ausgeführte Erker mit Märchenmotiven, die einen Hauch von Gemütlichkeit verströmten. Geplant war die neue sozialistische Wohnstadt für etwa 25.000 bis 30.000 Menschen. Mit dem sich anschließenden IV. Wohnkomplex war die Musterstadt eigentlich fertig.
Doch dann, in den 1960er-Jahren, wurde im Stahlwerk ein Kaltwalzwerk in Betrieb genommen. Da kamen junge Ingenieure und Architekten mit ihren Kenntnissen vom industriellen Bauen gerade recht. Sie brachten mehr Tempo in den Städtebau nach der Maßgabe „Besser, billiger und schneller“. Der V. Wohnkomplex, und hier schließt sich der Kreis zum Platz der Jugend, war die erste Stadterweiterung über den ursprünglichen Plan hinaus. Insgesamt entstanden in Stalinstadt, das in den 1960ern in Eisenhüttenstadt umbenannt wurde, sieben Wohnkomplexe.
Größtes Flächendenkmal Deutschlands
Doch dann kam die Wende. Das Stahlwerk kämpfte ums Überleben. Die Stadt verlor die Hälfte ihrer einst über 50.000 Einwohner. Dennoch wurden leerstehende Wohngebäude hier nicht in großem Umfang abgerissen. Vielmehr setzten Stadtplaner und Verantwortliche auf Stadtumbau. So ist die Kernstadt vom I. bis zum IV. Wohnkomplex heute weitgehend saniert. Eisenhüttenstadt gilt heute als das größte Flächendenkmal Deutschlands mit einer einzigartigen Architektur der 50er-Jahre.
„Das hat was!“, fand immerhin kein Geringerer als der US-amerikanische Schauspieler Tom Hanks, der die Stadt 2011 besuchte und dem „Late Show“-Moderator David Letterman etwas vorschwärmte von „Iron Hut City“, wie er es nannte. Was die Touristiker der Stadt bei ihren gut besuchten Stadtführungen durch die sanierten Stadtteile gern erwähnen. Der „Platz der Jugend“ im V. Wohnkomplex wird dabei allerdings verschämt ausgespart. Zu Unrecht, findet Martin Maleschka. Er nimmt das diesjährige Thema von Kulturland Brandenburg – „Baukultur leben“ – wörtlich.
Wie ansteckend sein Elan ist, war am 1. Mai zu sehen. In Kooperation mit dem nahegelegenen Museum Utopie und Alltag rief er zur Aufräumaktion auf, Subbotnik nannte man das zu DDR-Zeiten. Hunderte Eisenhüttenstädter, Junge und Alte, kamen, packten an, beseitigten Wildwuchs und entrümpelten. Die vernagelte Kaufhalle bekam eine neue Verkleidung. Darauf durften Sprayer das Motto des Projekts verewigen: „Auf den Platz. Fertig. Los!“
Zur zentralen Eröffnungsveranstaltung des Kulturland-Themenjahres Anfang Juni war unter den Pergolen eine Ausstellung über die Geschichte des Platzes zu sehen. So manches „Ach ja, das kenn ich noch!“ war da von Vorübergehenden zu hören. In den kommenden drei Monaten sind nun rund 50 Aktivitäten geplant, darunter Workshops mit Schulkindern, Picknicks vor Kunstwerken am Platz und Lesungen im noch gut erhaltenen, aber bisher ungenutzten einzigen Lehrschwimmbecken der Gagarinschule. Und wenn alles gut läuft, verrät Maleschka hinter vorgehaltener Hand, zieht in die leerstehende Schule bald ein neuer Investor ein. Das habe ihm der Bürgermeister gesteckt.