Anfang 2022 ist das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin ins stillgelegte Internationale Congress Centrum gezogen. Und probt damit an einem Ort, an dem früher Konferenzen, Presse-Events und Bälle stattfanden.
Zur Messezeit strömten einst zigtausende Besucher mit ihren Rollköfferchen durch den Haupteingang des Internationalen Congress Centrums (ICC). Heute wuchert hier das Unkraut in den Blumenrabatten. Der Parkplatz ist verwaist. In der Kassenhalle hängen Jalousien vor den Schaltern.
Kaum vorstellbar, dass in dem behördlich stillgelegten Gebäude ein Orchester residiert. Vor wenigen Monaten alarmierte ein Passant die Polizei, weil zwei Männer mit „auffälligen Koffern“ das ICC betraten. Kurz darauf waren Straßen gesperrt, das riesige Gebäude von einer SEK-Einheit umstellt. Am Ende handelte es sich um Blechbläser des Deutschen Symphonie-Orchesters (DSO).
Im Februar 2022 hatte das DSO seine Probenräume und Büros hierher verlegt; die Konzerte gehen nach wie vor in der Philharmonie über die Bühne. „Wir haben uns in den letzten anderthalb Jahren so zurechtgeruckelt, dass das ICC für uns als Probenort funktioniert“, sagt Orchesterdirektor Thomas Schmidt-Ott. „Der Anfang war holprig, weil das ICC seit 2014 ein stillgelegtes Gebäude ist, das ohne Modernisierung schlicht nur mit Erhaltungsmaßnahmen überlebt. Das Wasser, das hier aus den Rohren kommt, ist durch den Rost eisenhaltig und nicht trinkbar. Bei Heizung und Klimatisierung ist es ein Glückstreffer, wenn die richtig funktionieren.“
Wie das DSO in diese fatale Situation gelangte, ist eine lange, verwickelte Geschichte: Noch zu Zeiten des Kalten Krieges probte das DSO im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks. Dieser Saal wurde jedoch nach der Wende dem Rundfunk-Sinfonieorchester überlassen. Das DSO zog im selben Gebäude in den Ferenc-Fricsay-Saal, benannt nach jenem legendären Dirigenten, der das West-Berliner RIAS-Symphonie-Orchester, Vorgänger des DSO, in der Nachkriegszeit international bekannt machte.
Rostige Rohre und marode Heizung
„Auch dieser Saal war ein Provisorium: zu klein; in ehemaligen Werkstätten, die man für relativ schmales Geld umgerüstet hatte“, erzählt Thomas Schmidt-Ott. „Wenn es um große Sinfonik und Chormusik ging, mussten wir in den Großen Sendesaal umziehen.“
Dann aber entschied sich der Rundfunk Berlin Brandenburg zum Bau eines Digitalen Medienhauses – das DSO musste seinen Probensaal und die Büros räumen und nach einem Ausweichquartier suchen. Das wurde das ICC, dafür sorgte Wolf-Dieter Wolf: in Personalunion Verwaltungsratsvorsitzender des RBB und Aufsichtsratsvorsitzender der Messe Berlin, die auch das ICC betreibt.
Die Messe brauchte Mieteinnahmen; der RBB sollte sparen. Wolf handelte für beide, ein Interessenkonflikt, der später im Zusammenhang mit der Affäre rund um die ehemalige RBB-Intendantin Patricia Schlesinger aufgedeckt wurde. Aber da hatte der RBB-Verwaltungsrat schon zugestimmt, dass das ICC für zunächst zwei Jahre als Ausweichstandort angemietet wurde – für 1,74 Millionen Euro plus Umbaukosten für Heizung, Lüftung, Brandschutz und Elektronik – alles abgedeckt vom RBB beziehungsweise den Gebührenzahlern. Zudem fallen rund 60.000 Euro Nebenkosten pro Monat an.
Im ICC hat das Orchester nur einen Bruchteil der riesigen Gebäudefläche bezogen. Es nutzt drei Etagen in der nordöstlichen Ecke des Hauses, das vom Technologie-Optimismus der Siebziger Jahre zeugt: Der wie ein Raumschiff anmutende Bau erstreckt sich über 320 Meter Länge, 80 Meter Breite und 40 Meter Höhe. 80 Veranstaltungssäle befinden sich hier – eines der größten Kongresshäuser der Welt und zugleich eine Architektur-Ikone. Doch der Umgang mit dem ICC ist ein Trauerspiel der Berliner Art: 15 Jahre lang debattierte der Senat über Sanierung, Schließung oder Abriss – bis das lange Abwarten eine Sanierung zu teuer machte. Daraufhin wurde das Gebäude einfach stillgelegt und gleichsam sich selbst überlassen. Kosten von rund zwei Millionen Euro jährlich fallen trotzdem an, um den Status quo zu erhalten.
Inzwischen wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Was daraus in Zukunft werden soll, bleibt offen. Derweil löst eine Zwischennutzung die nächste ab: 2015 wurden hier Flüchtlinge untergebracht; 2021 standen hunderte Impfkabinen im Foyer.
Das DSO hat sich im Saal 2 mit seinen 2400 Sitzplätzen eingerichtet, genauer gesagt: unter diesem Saal. „Der Saal 2 hatte eine damals revolutionäre Technik: Er ließ sich in einen Ballsaal umwandeln, indem man das ansteigende Parkett mit dicken Stahlketten unter das Dach hochzog“, holt Orchesterdirektor Thomas Schmidt-Ott aus. „Jetzt steht das Parkett auf dem Boden; meines Wissens fehlt der Tüv. Wir haben unseren Probenort unter dieser Schräge eingerichtet.“
Es wurde eine Art Saal-im-Saal-Konstruktion geschaffen, ein Podest sowie Stahlträger für die Beleuchtung eingebaut. „Alle ursprünglichen Materialien sind klangschluckend. Die mussten wir mit Segeln, Platten und Stellwänden abdecken“, erklärt Schmidt-Ott. „Wir haben zusammen mit Akustik-Profis eine Weile rumexperimentiert, wie wir das Orchester am besten positionieren. All diese Maßnahmen greifen jetzt so halbwegs. Akustisch ideal ist es zwar längst nicht. Doch die DSO’ler kommen damit inzwischen gut klar – professionell, wie sie sind.“
Feministische Programmpolitik
Für kammermusikalische Proben steht die sehenswerte Pullman Lounge zur Verfügung, mit stilvollen Bogenlampen vor breiten Fensterfronten. In voluminösen Couch-Landschaften lümmelten einst die hochdotierten Konferenzredner vor und nach ihren Auftritten.
Ihren Qualitätsanspruch unterstreichen das DSO und sein Chefdirigent Robin Ticciati mit einem Paukenschlag in der Programmgestaltung der anstehenden Saison: In jedem einzelnen Konzert steht mindestens eine Komposition von einer Frau auf dem Programm, vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Man starte eine „feministische Programmpolitik“, teilte das Orchester-Management mit, in Anlehnung an Annalena Baerbocks „feministische Außenpolitik“. Die Konzerte finden überwiegend in der Berliner Philharmonie statt. „Wir kommen zum Spielen gewissermaßen immer aus der Speisekammer ins Wohnzimmer“, meint Orchesterdirektor Schmidt-Ott.
Ursprünglich war geplant, dass das DSO Ende 2023 wieder aus dem ICC auszieht. „Das wäre das schlimmste Szenario, denn dann wüssten wir momentan gar nicht, wohin die Reise gehen soll“, sagt Schmidt-Ott. „Dann könnten wir uns nur noch mit Sekundenkleber auf dem Messedamm fixieren und Beethovens ‚Schicksalssinfonie‘ spielen, um auf das Los dieses einzigartigen Orchesters aufmerksam zu machen.“
Was aber das endgültige Zuhause des DSO angeht, so kommt für Orchesterdirektor Thomas Schmidt-Ott nur ein Ort infrage: die derzeit leerstehenden Studios im RBB-Fernsehzentrum, fast neben dem einstigen Ferenc-Fricsay-Saal. Schmidt-Ott träumt von einem Musikzentrum mit Möglichkeiten für Proben und Education – einem Ort, der die Kultur Berlins belebt.