Baden-Württembergs Landeshauptstadt Stuttgart hat nicht nur mit steigenden Preisen, sondern vor allem mit massivem Wohnungsmangel zu kämpfen. Das Problem der Stadt in Kessellage zwischen überteuerten Hängen ist hausgemacht.
Marc Schiller starrt auf seinen Bildschirm und reibt sich die Augen. Vor wenigen Stunden hatte er für seinen Vater eine Eigentumswohnung im südlichen Stuttgarter Stadtteil Heslach inseriert. Eineinhalb Zimmer, Küche, Bad, lichtdurchflutete 40 Quadratmeter. Kostenpunkt: 450 Euro plus Nebenkosten. Kein schlechter Preis in einer deutschen Großstadt. Doch damit hatte er nicht gerechnet. 90 Bewerber haben sich auf das Inserat gemeldet und bemühen sich um einen Besichtigungstermin. Marc Schiller ist überfordert. Dabei ist solch eine Situation schon lange Normalität in Baden-Württembergs Landeshauptstadt. Der Wohnungsmarkt ist ähnlich angespannt wie in München.
Zwar ist der Durchschnittsverdienst in Stuttgart mit rund 50.000 Euro jährlich deutlich höher als bundesweit. Doch hohe Mieten und akuter Wohnungsmangel treffen diejenigen, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind. Krankenpfleger, Sozialarbeiter – sie müssen pendeln oder sich Wohnungen außerhalb suchen. Die Caritas, so ist zu hören, kann derzeit rund 1.800 Stellen in Stuttgart nicht besetzen, weil sich niemand, der einem sozialen Beruf nachgeht, das teure Leben in der Großstadt noch leisten kann. Wie die Stadtverwaltung mitteilt, sind die Mieten zwischen Mai 2014 und April 2016 durchschnittlich um sechs Prozent gestiegen. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg stiegen die Kosten im selben Zeitraum im Durchschnitt nur um zwei Prozent. Auch Eigentum ist teuer. Die Preise für Bestandswohnungen sind seit 2007 jährlich um rund 16 Prozent gestiegen. Neu gebaute Eigentumswohnungen kosteten 2016 im Durchschnitt rund 5.400 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Damit liegt Stuttgart bei den Preisen für neugebaute Eigentumswohnungen nach München auf Rang zwei. Bei Mietpreisen ist neben München nur Hamburg teurer.
5.400 Euro pro Quadratmeter
Die Einwohnerzahl der sechstgrößten Stadt Deutschlands ist tendenziell dennoch steigend. Seit dem Jahr 2000 erhöhte sie sich um zehn Prozent auf derzeit rund 610.000. Und die, die eine Wohnung gefunden haben, können sich glücklich schätzen.
Wohnungsnot in deutschen Großstädten ist bekanntlich kein regionales Phänomen. In Stuttgart gibt es aber eine Besonderheit, sagt der Geschäftsführer des Stuttgarter Haus- und Grundbesitzervereins, Ulrich Wecker: „Die Familien halten ihr Geld hier zusammen und kaufen sich davon Eigentumswohnungen für ihre Kinder.“ Den Bausparvertrag bekommt der Schwabe schon in die Wiege gelegt. In vielen Fällen ist das kein Klischee, sondern Tatsache. Und so kommt es, dass sich die Stuttgarter trotz der immer höheren Immobilienpreise Eigentum zulegen, aber nicht vermieten, sondern selbst darin wohnen. Dass sich die Quadratmeterkaufpreise für Immobilien in der Stadt seit 2013 nahezu verdoppelt haben, liegt nicht nur an den niedrigen Zinsen, sagt Wecker. Schuld sei auch das hohe Lohnniveau in einer der wirtschaftsstärksten Städte Deutschlands, in der zahlreiche Global Player ansässig sind wie Daimler, Bosch und Porsche. Steigende Löhne zögen auch die Miet- und Immobilienpreise mit in die Höhe. Doch vor allem sei die Menge der Wohnungen, die in Stuttgart auf den Markt kommen, schlicht zu gering: „Wir fordern seit Langem, dass die Stadt etwas tut, denn immer mehr Unternehmen beschweren sich, nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein, weil die jungen Talente nicht mehr herkommen, wenn sie keine Wohnungen finden.“
5.000 Wohnungen jährlich müssten laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln dazukommen, um der Nachfrage gerecht zu werden. Der Stuttgarter Haus- und Grundbesitzerverein und der Mieterverein gaben die Studie gemeinsam in Auftrag. Zwei Institutionen also, die meist eher wenig Gründe haben, für eine gemeinsame Sache zu kämpfen. Doch die Stadt sieht keine Möglichkeit, die großen Ziele zu erreichen. Sie gibt eine Zielsumme von 1.800 neuen Wohnungen pro Jahr vor. „Wir brauchen Wohnungsbau mit Maß“, sagt der Pressesprecher der Stadt, Sven Matis. Mehr als die Hälfte Stuttgarts besteht aus Wald, Landwirtschafts- oder Erholungsfläche. „Das ist ein hohes Gut, und davon profitieren die Einwohner schon heute, auch die nachfolgenden Generationen.“
Deshalb habe die Innenentwicklung auch Vorrang. „Die Mehrheit des Gemeinderats hat die klare Haltung, dass keine neuen Wohngebiete auf der grünen Wiese ausgewiesen werden sollen“, sagt Matis. Dennoch diskutiere der Gemeinderat nach wie vor heftig über das Thema. Für April sei dazu eine Generaldebatte angesetzt.
Der Stuttgarter Wohnsoziologe Tilman Harlander stellt sich auf die Seite der geplagten Wohnungssuchenden: „Stuttgart unterscheidet sich von Städten wie München, Köln oder Berlin insofern“, sagt er, „dass alle auf die veränderte Situation reagieren und sagen: Wir brauchen eine Kombination aus Innenentwicklung mit maßvoller, ergänzender Außenentwicklung. Doch Stuttgart verweigert sich.“ Oberbürgermeister Fritz Kuhn predige gebetsmühlenartig, dass die Kessellage ein Stuttgarter Spezifikum sei, die keine weitere Bebauung in der Fläche ermöglicht. Zur Not müssten die Leute eben in die Region ziehen, „und das ist schon ein enormer Druck, den wir dadurch im Kessel bekommen“, sagt Harlander. Für das grüne Rathaus sei das Pochen auf Frei- und Grünflächen eine Art Markenkern. Dabei ist es aus Sicht grüner Politik alles andere als gut, wenn durch den Wohnungsmangel in der Kernstadt täglich Zehntausende Pendler aus der Metropolregion nach Stuttgart fahren. Stichwort Feinstaub: Das Stuttgarter Neckartor galt jahrelang als Feinstaub-Messstation mit den bundesweit schlechtesten Werten. Wie also lässt sich die Wohnraumproblematik in Stuttgart lösen?
Bauprojekte wie das bundesweit bekannte Stuttgart 21, bei dem wegfallende Bahngleise Platz für Wohnungen schaffen sollen, seien jedenfalls keine Soforthilfe, sagt Harlander, der fürchtet, dass es „bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts dauern dürfte, bis dort Wohnungen bezugsfertig sind“. Eine Lösung der Problematik ist seiner Meinung nach deshalb derzeit noch nicht in Sicht. Auch, wenn „die Stadt das Problem inzwischen erkannt hat“.
Kein Bau „auf der grünen Wiese“
Das bestätigt auch deren Sprecher Sven Matis. Zahlreiche Bauprojekte seien momentan am Laufen. Außerdem investiere Stuttgart insgesamt 31 Millionen Euro an Zuschüssen und Grundstückssubventionen in den geförderten Wohnungsbau. Im Juni 2016 entstand das „Bündnis für Wohnen“, in dem Stadt und Wohnungsbauer sich verpflichten, gemeinsam die Wohnungsbauziele vor allem im geförderten Bereich zu erreichen. Das Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM) sehe zudem vor, städtische Grundstücke nicht an den höchstbietenden Bauinteressenten zu verkaufen, sondern an jenen mit dem besten Konzept. Generell arbeite die Stadt intensiv daran, für den angespannten Markt mehr Wohnungen bereitstellen zu können. Matis: „Die Stadtplaner rechnen mit mindestens 3.500 neuen Wohnungen in Stuttgart in den beiden nächsten Jahren.“ Doch das, sagen die Kritiker, reiche bei Weitem nicht. Sie pochen auf die 5.000 Wohnungen jährlich, um den Wohnungsmarkt zu entlasten.
Es dürfte spannend bleiben, ob der Stuttgarter Gemeinderat die Wohnungssituation in den kommenden Monaten neu bewertet. Für die 89 Interessenten, die Marc Schillers Wohnung nicht bekommen haben, und die vielen Hunderten Bewerber, die sich täglich um Wohnungen in Stuttgart bemühen, wäre das ein Funken Hoffnung auf Besserung.