Die Zahl der Krisen, die sich überlappen, war nie so dramatisch wie derzeit, sagt Sozial- und Gesundheitsminister Magnus Jung (SPD). Die Bekämpfung der Armut hat damit einen ganz neuen Stellenwert. Gleichzeitig entwickelt sich die Pandemie zu einer neuen Herausforderung.
Herr Minister Jung, Sie haben vor kurzem den lang erwarteten Armuts- und Reichtumsbericht für das Saarland vorgestellt. Corona und die aktuellen Entwicklungen dürften aller Voraussicht nach die Lage noch verschärfen. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Baustellen, die sich daraus ergeben?
Armut war schon vor Corona ein erhebliches Problem, vor allem die Spaltung der Gesellschaft. Der Armuts- und Reichtumsbericht weist aus: Wir haben ein allgemeines Armutsrisiko von 16,2 Prozent, bei Kindern, Jugendlichen und Senioren sind es etwa 20 Prozent. In einigen Stadtteilen und Quartieren wachsen zwei von drei Kindern oder Jugendlichen in Armut auf. Das ist ein großes gesellschaftliches Problem. Mit der Corona-Pandemie ist die Arbeitslosigkeit vorübergehend angestiegen und damit auch die Armut. Die Möglichkeit, nebenbei noch etwas zu verdienen, ist für viele Leute weggefallen, beispielsweise durch das Schließen der Gastronomie. Das hat die sowieso schon schwierige Situation noch weiter verschärft. Nun ist durch die Konjunktur die Arbeitslosigkeit wieder gesunken, aber wir haben auch einen erheblichen Zuzug von Geflüchteten aus der Ukraine. Und auch die Inflation und die gestiegenen Energiepreise führen zu einer weiteren Belastung von schon belasteten Personengruppen. Das wird sich in der Armutsstatistik wiederfinden. Es ist nicht wie in der Vergangenheit allein die Einkommensarmut, sondern der Preisschock auf der Ausgabenseite, der dazu führt, dass die Menschen weniger Geld für ihren Lebensunterhalt haben. Das alles müssen wir für die Armutsbekämpfung bedenken.
Aus der Vergangenheit ist bekannt, dass es Gruppen gibt, die besonders betroffen sind, etwa Alleinerziehende und ihre Kinder oder Rentnerinnen und Rentner mit kleiner Rente. Wenn sich das jetzt verschärft, welche Stellschrauben stehen der Politik zur Verfügung?
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung gibt es einige Instrumente, die zu einer Verbesserung der Situation und zu einem Rückgang der Armut führen. Da wäre zunächst die Einführung der Respektrente zu nennen. Sie bedeutet für einen erheblichen Teil der Bevölkerung im unteren Einkommens- und Rentenbereich eine deutlich höhere Rente und ist damit auch ein Mechanismus zur Bekämpfung der Altersarmut. Zweitens ist das Bürgergeld, das Hartz IV ersetzt, mit höheren Sätzen verbunden. Drittens werden wir in dieser Legislaturperiode die Kindergrundsicherung einführen, das wird viele Kinder und Jugendliche aus der Armut herausholen. Außerdem haben wir den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöht, was für viele mit niedrigem Einkommen der Weg heraus aus der statistischen Armut bedeutet. Diese sozialdemokratischen Projekte auf der Bundesebene führen dazu, dass wir die Armut aktiv bekämpfen. Eigentlich müssten damit auch die Menschen, die in Armut leben, weniger werden, wenn es nicht zeitglich die bereits erwähnten Entwicklungen auf der internationalen Ebene gäbe. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Maßnahmen nicht die richtigen und auch die geeigneten wären.
Armut besonders in Quartieren bekämpfen
Der Rückgang von Armut ist etwas, das insbesondere auf der bundespolitischen Ebene erreicht und durchgesetzt werden muss durch Reformen des Sozialstaates, aber auch eine gute Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Es ist gut, dass hier wichtige Punkte auf den Weg gebracht wurden.
Und auf der Landesebene?
Hier gibt es eine Reihe von Steuerungsmöglichkeiten, insbesondere in der Bekämpfung der Folgen von Armut. Dazu gehören eine gute Bildungspolitik, der Ausbau der Kindertageseinrichtungen und die Abschaffung der Kita-Gebühren, die wir umsetzen werden, eine verstärkte Integrationspolitik von Migrantinnen und Migranten, die deutlich stärker von Armut betroffen sind, und auch der kommunale Sozialstaat muss besser ausgebaut werden. Wir als Landesregierung wollen deswegen eine quartiersbezogene Armutsbekämpfung auf den Weg bringen – uns also auf die Quartiere konzentrieren, wo die Armut am größten ist.
Was soll sich bei der quartiersbezogenen Arbeit ändern?
Die Zielsetzung muss sein, dass die Menschen in diesen Quartieren eine klare Perspektive sehen, dass sich ihr Quartier und damit ihre Lebenssituation in den nächsten Jahren deutlich verbessern wird. Wir müssen den Umgang mit der Situation und den Menschen verändern. Das kann die Sozialpolitik nicht allein, das geht nur ressortübergreifend mit einem Entwicklungsplan für die stark betroffenen Quartiere wie zum Beispiel Malstatt, Burbach oder die Folsterhöhe. Hier brauchen wir ein Ineinandergreifen von sozialem Wohnungsbau, Verkehrspolitik, Wirtschaftsförderung und dem Ausbau von Bildungseinrichtungen. Genauso brauchen wir einen ebenenübergreifenden Ansatz zwischen Land, Kommunen und den Kreisen in Zusammenarbeit mit den freien Trägern. Viele Bürgerinnen und Bürger können und wollen auch selbst dazu beitragen, dass sich ihre Quartiere in eine andere Richtung bewegen. Auch diese Potenziale wollen wir nutzen. Das alles sind Prozesse einer aktiven Sozialpolitik. Die muss man machen wollen, und wir wollen das anpacken. Die Prozesse müssen nachhaltig sein und am Ende zu einem effektiveren Ressourceneinsatz führen. Es gibt hier bereits viele gute Projekte und engagierte Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Was fehlt, ist ein großer Wurf – und den wollen wir organisieren.
Welche Rolle wird dabei beispielsweise die Armutskonferenz haben?
Ich habe ja schon angekündigt, dass wir den Armutsbeirat politisch stärken, indem wir ihm eine Geschäftsordnung geben, seine Kompetenzen festschreiben und schriftlich festlegen, dass er bei der Mittelbewirtschaftung des Armutsfonds beteiligt wird. Das war bisher schon der Fall, aber ohne eine festgeschriebene Grundlage. Mit dieser Institutionalisierung wird der Armutsbeirat deutlich gestärkt. Die Armutskonferenz ist einer der Akteure im Beirat. Wir freuen uns auf die Ideen, die sich daraus ergeben, aber auch der Anspruch an uns selbst ist sehr hoch.
In der Vergangenheit gab es immer wieder die Kritik, dass es zwar eine Vielzahl von Projekten gibt, die aber zeitlich befristet sind, also langfristige Planungsperspektiven fehlen. Kommt man aus dieser Systematik raus?
Das wird schwierig. Die Instrumente einer Regelförderung und institutionalisierten Förderung kann man möglicherweise bei der Gemeinwesenarbeit verstetigen. Ansonsten werden es auch in Zukunft Projekte sein müssen. Wir versuchen jedoch, möglichst viele Bundes- und EU-Mittel zu organisieren. Im Bereich der Bekämpfung von Kinderarmut werden wir 2,5 Millionen aus EU-Mitteln zur Verfügung haben, die wir vom Land kofinanzieren können, also insgesamt fünf Millionen für diese Legislaturperiode. Diese sind bis 2027 beziehungsweise 2029 befristet (Laufzeit EU-Förderperioden; Anm.d. Red.), in dieser Zeit kann man aber viel Sinnvolles umsetzen und auf den Weg bringen.
Krisen überlappen sich dramatisch
Wenn jetzt noch die aktuellen Herausforderungen dazukommen, wird das alles noch viel mehr Geld kosten. Auch der Bund muss das ja irgendwo herbekommen. Muss man da noch mal einiges vom Grundsatz her neu denken?
Also zunächst ist unsere wichtigste Aufgabe, dass wir Ideen haben. Wenn wir Ideen haben, müssen wir Strukturen schaffen, mit denen wir arbeiten können. Ideen haben wir viele, die Strukturen schaffen wir uns mit den Mitteln, die uns im nächsten Haushalt zur Verfügung stehen. Und dann werden wir uns bemühen, den Einsatz der Mittel aus Bund und EU zu optimieren. Wir werden versuchen, die Mittel, die wir als Land ohnehin ausgeben, durch eine bessere Koordination effizienter einzusetzen. Ich werde dafür werben, dass sich das Land auf die Quartiere konzentriert, für die es besonders gefordert ist. Hier geht es auch um öffentliche Investitionen. Das kann ich als Sozialminister nicht anordnen, aber konzeptionell begleiten. Ein Beispiel ist die HTW. Als eine sich gut entwickelnde Hochschule grenzt sie auch an Burbach und Malstatt. Das könnte man städtebaulich nutzbar machen für die Entwicklung der Quartiere.
Der Bundeskanzler hat vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft gewarnt angesichts der aktuellen Entwicklung. Wie ernst ist das und wie schätzen Sie ein, was auf uns zukommt?
Die Zahl der Krisen, die sich in den letzten Jahren überlappen, ist dramatisch. Wir haben eine ernsthafte Bedrohung für den Frieden in Mitteleuropa. wir haben eine spürbare Wirtschaftskrise, verschärft durch die Folgen des Krieges. Wir haben den erheblichen Strukturwandel in der Industrie, der viel mit den Herausforderungen des Klimawandels zu tun hat. Die Folgen der Klimakrise sind schon jetzt und auch hier zu spüren. Wenn ich bei mir zu Hause auf den Peterberg schaue, sehe ich, dass sich die Zahl der abgestorbenen Fichten täglich erhöht, das sieht teilweise wie eine Mondlandschaft aus. In vielen Teilen der Welt ist es viel, viel schlimmer. Der Klimawandel ist eine existenzielle Bedrohung – auch für den Frieden und auch für Menschen in Armut. Die Krisen verstärken sich zudem gegenseitig. Der Reform- und Veränderungsdruck nimmt dadurch enorm zu. Gleichzeitig muss man versuchen, die notwendigen Reformen so zu gestalten, dass sie sozial ausgewogen sind. Hinzu kommt eine Krise der Demokratie. Wenn man die Wahlergebnisse in Frankreich, in Großbritannien, in den USA betrachtet, gibt es offen antidemokratische Bewegungen, die man nicht unterschätzen sollte. Wenn es Sozialpolitik in all diesen Krisen nicht schafft, einen Schutzschirm für die Menschen darzustellen und die Gesellschaft zusammenzuhalten, dann wird es für uns alle echt schwierig.
Wir sehen zwei gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite ein Auseinanderdriften, Stichworte Querdenker und Cancel Culture, auf der anderen Seite große aktive Solidarität, wie zu Beginn der Pandemie, bei der Flutkatastrophe oder im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Kriegt man das noch mal zusammen?
Das ist die menschliche Ambivalenz. In Menschen steckt so viel Potenzial an Mitmenschlichkeit und Solidarität. Das ist eine Kraft, die nie versiegen wird, die aber gehegt und gepflegt werden muss und nicht enttäuscht werden darf. Das ist eine Verantwortung, die die Politik hat. Umgekehrt darf man nicht alle, deren Haltung man als Bedrohung für die Demokratie empfindet, verteufeln, sondern muss auch dort das Gespräch suchen, gleichzeitig aber auch sehr deutlich die Grenzen aufzeigen. Demokratie muss wehrhaft sein. Das gilt übrigens nach innen und nach außen.
Eine der aktuellen Herausforderungen ist einmal mehr die Corona-Entwicklung. Wir hören jetzt von Problemen in Kliniken, steigenden Patientenzahlen, gleichzeitig Ausfall von Personal. Was kommt da auf uns zu?
Die Situation ist jetzt so, wie wir sie vor Wochen auf Grundlage der Berechnungen von Expertinnen und Experten vorausgesagt haben. Wir haben gut 20.000 Menschen im Saarland, die infiziert sind. Die Dunkelziffer ist hoch und die Situation in Kliniken ist ernst. Wir haben zunehmend Meldungen, dass sich Kliniken aus der Versorgung abmelden müssen, weil sie Stationen nicht mehr personalisieren können. Wir hoffen, dass der Höhepunkt der Sommerwelle erreicht wird und die Zahlen vor dem Herbst noch einmal heruntergehen, aber sicher können wir uns da nicht sein. Wir können an Bürgerinnen und Bürger appellieren, aber viel mehr Instrumente haben wir zurzeit leider nicht zur Verfügung.
Die Diskussion um ein neues Infektionsschutzgesetz geht ja nun schon eine Weile, wie ist der aktuelle Stand?
Ich bin selbst nicht bei den Verhandlungen in Berlin dabei. Es gibt die Absicht, dass in der zweiten Septemberhälfte ein neues Infektionsschutzgesetz verabschiedet wird. Die Gesundheitsminister der Länder haben auf der Konferenz einen sehr weitreichenden Vorschlag für notwendige Instrumente gemacht. Möglich sein muss nahezu alles, was wir in der Vergangenheit schon hatten. Nutzen wollen wir nur das, was aufgrund der Situation notwendig ist. Sehr ärgerlich wäre es, wenn bei einer Zuspitzung Maßnahmen nicht anwendbar wären, weil das notwendige Instrument rechtlich nicht möglich ist. Das sieht auch der Bundesgesundheitsminister so. Jetzt muss die FDP ihre ideologische Haltung ablegen, dann könnten wir die rechtlichen Voraussetzungen schaffen.
Intensives Werben für Impfungen
Wir müssen jedoch auch noch mal dafür sensibilisieren, dass die Pandemie nicht vorbei ist und die Folgen auch für die Einzelnen schwieriger werden, als sie es im Moment sind. Das hängt mit dem zurückgehenden Impfschutz zusammen, der mit jedem Tag etwas geringer wird. Bislang hat der Impfschutz dazu geführt, dass bei den hohen Infektionszahlen die Situation in den Krankenhäusern nicht außer Kontrolle geraten ist und die Todeszahlen nicht so hoch sind, wie sie es schon einmal waren. Aber es ist zu erwarten, dass mit nachlassendem Impfschutz die Risiken größer werden. Deshalb ist eine neue Impfkampagne zum Herbst sehr wichtig – aber schwierig zu planen. Wir wissen noch nicht, wann ein angepasster Impfstoff zur Verfügung steht. Zudem ist der geeignete Zeitpunkt für eine vierte Impfung individuell sehr unterschiedlich und davon abhängig, wann man die letzte Impfung erhalten und wann die letzte Infektion stattgefunden hat.
Sie haben die vermutlich hohe Dunkelziffer angesprochen. War der Wegfall der kostenlosen Bürgertests vor diesem Hintergrund eine kluge Entscheidung?
Ich bin der Auffassung, dass das Testen nach wie vor ein wichtiger Bestandteil zur Pandemiebekämpfung ist. Alle, die sich testen lassen und bei Entdeckung einer möglicherweise stummen Infektion in Quarantäne begeben, leisten einen wichtigen Beitrag gegen die ansteigenden Zahlen. Deshalb halte ich das Aus für die kostenlosen Bürgertests für falsch. Ich verstehe, dass man auf der Kostenseite etwas unternehmen wollte. Die Vergütungssätze sind jetzt niedriger, und es gab und gibt mit Sicherheit auch das ein oder andere Qualitätsproblem. Dass es Verbesserungsbedarf gegeben hat, ist also unbestrittenen. Nur wie es gemacht wurde, vor allem so kurzfristig, war keine Glanzleistung. Das liegt vor allem an der FDP, die verhindert hat, dass es früher zu Lösungen kommen konnte. Wir haben als Saarland mit dafür gesorgt, dass es eine ganze Reihe von Ausnahmen von der Kostenpflicht gibt zum Beispiel für vulnerable Gruppen, bei Krankenhäusern und Seniorenheimen und deren Besuchern. Hier sind wir vorneweg gegangen.