Dank Corona gibt es in Deutschland eine Welle der Solidarität. Die Nachbarschaft wird wiederentdeckt. Da wird in Whatsapp-Gruppen zum Kauf beim Italiener aufgerufen, damit der am Ende des Monats seine Miete zahlen kann.
Als Mitte März absehbar war, dass sich durch Corona das Leben ein bisschen verändern wird, handelte Kneipenwirtin Kathi besonders vorrausschauend. Die Mittvierzigerin betreibt eine typische Berliner Eckkneipe im Ortsteil Friedenau am Bundesplatz in Berlin und wusste: „Jetzt wird das Bier knapp." Also nahm sie ihr ganzes Bargeld aus der Kasse und bestellte noch mal schnell die Bierkutscher. Am Samstagabend war zwar die Kasse leer, aber Bier für die kommenden drei Wochen im Keller. So lange, vermutete Kathi, wird „das Affentheater" wohl dauern. In diesem Fall hatte die Wirtin allerdings die Rechnung ohne den Regierenden Bürgermeister Müller gemacht. Der verfügte nämlich kurzerhand, dass ab Mitternacht alle Berliner Kneipen geschlossen werden. Für Kneipenwirtin Kathi bricht eine Welt zusammen: Ohne Kunden kein Umsatz, und sie hatte doch gerade ihr gesamtes Bares in Bier angelegt. Was soll man da machen? Vorne bleibt die Tür zu, aber hinten über den Hofeingang kommt zumindest die Stammkundschaft doch noch auf ein Pils vorbei. „Solidaritätstrinken bei Kathi", nannte sich das. Damit ist jetzt aber auch Schluss. Erstens ist das Bier inzwischen ziemlich alle, neues wird nicht geliefert – und außerdem droht Kathi die Zwangsverpflichtung. Die ehemalige Krankenschwester könnte auf Geheiß der Gesundheitsverwaltung für die Versorgung in einer Berliner Klinik rekrutiert werden. Damit soll der drohende Personalnotstand in den Kliniken abgewendet werden. Obendrein hätte die Alleinunternehmerin so wieder ein Einkommen.
Zusammenhalt ist wieder im Trend
Das Projekt ist allerdings selbst in den Kliniken umstritten. Das Meinungsbild am Berliner Bundesplatz darüber ist gespalten. Zwangsverpflichtung ist mit dem freien Bürgertum eigentlich nicht zu vereinbaren. Andererseits muss ja aber irgendjemand den Laden am Laufen halten. Immer wieder fällt das schöne Wort „Solidarität". Da ist zum Beispiel eine Hausgemeinschaft in einer „Mietskaserne" aus Kaisers Zeiten. Hochherrschaftliches Vorderhaus, zwei Hinterhäuser inklusive Seitenflügel, dazu ein Garten- und das Ateliershaus. Insgesamt leben hier gut und gern 400 Menschen auf engstem Raum „zur Miete" zusammen. Als sich die Corona-Krise abzeichnete, wurde umgehend eine Whatsapp-Gruppe gegründet. Vor allem die vielen Familien mit kleinen Kindern fanden sich schnell zusammen, nachdem durchsickerte, dass Schulen und Kitas geschlossen werden könnten. Beinahe euphorisch wurde da schon mal ein Plan gemacht, wie man die Kinder gegenseitig betreuen könnte. Im zweiten Hinterhof gibt es eine kleine Buddelkiste, da könnte man die Kinder ja unterbringen. Oder im Volkspark auf dem Spielplatz. Einer marschiert vormittags mit der Kinderschar los und wird dann am Mittag abgelöst. Über Whatsapp las sich das wirklich gut, wurde dann aber leider von der Realität eingeholt. Als die Spielplätze noch geöffnet waren, hatte Dilek Kalayci, die Berliner Senatorin für Gesundheit, den Eltern die dringende Empfehlung mit auf den Weg gegeben, man möge die Kinder doch bitte nur auf anderthalb Meter Distanz zueinander spielen lassen. Kinder, Spielplatz und Distanz, drei Begriffe die absolut nicht zusammenpassen, das musste dann auch die Senatorin Kalayci einsehen, die Spielplätze wurden geschlossen. Die anfängliche Begeisterung der Whatsapp-Gruppe, wie man das alles meistern will, hat sich unterdessen auf „normal" runternivelliert, während die Corona-Gefährdungsstufe auf „hoch" gesetzt wurde. Eine letzte gemeinsame Aktion war dann der Solidaritätsaufruf für die Osteria am Bundesplatz in Berlin Wilmersdorf. Alle Bewohner wurden aufgerufen, dort Essen zu holen, damit die Besitzer Anfang April ihre Miete noch bezahlen können. Die Osteria darf zwar weiter außerhäusig verkaufen, aber das geht nur, wenn man seine Verpackungen mitbringt. Die Betreiber sind auf Außerhausverkauf überhaupt nicht vorbereitet, und schließlich geht es trotz Corona auch um den Umweltgedanken. Weniger Plastikverpackungen ist immer mehr für die Umwelt.
Doch langsam sind es ganz alltägliche Dinge, die fehlen. Jetzt im Frühjahr werden die Räder wieder aus dem Keller geholt. Eine Radtour allein ist trotz Ausgangsbeschränkungen erlaubt und wird obendrein von den Medizinern empfohlen. Soweit die Theorie. Doch was machen, wenn die umliegenden Fahrradhändler alle zu sind und man keinen Schlauch oder Kette kaufen kann? Am Bundesplatz gibt es doch einen Fahrradhändler, der seinen Laden offenhalten darf. Er ist der offizielle Service-Dienstleister für die Elektrobikes eines Paketversandes. Dort werden die wuchtigen Dreiräder technisch auf Vordermann gehalten, um die Pakete zu verteilen. Dieser Fahrradladen gehört damit „zur kritischen Infrastruktur der Grundversorgung", freut sich der Ladenbesitzer. Doch darf er in seinem Laden keine „normalen" Kunden bedienen. Auch in diesem Fall hilft wieder der Hinterhof. Stammkunden kennen den Nebeneingang, und somit kann der Friedenauer Kiez im Frühjahr 2020 doch noch mit den notwendigen Fahrradersatzteilen versorgt werden. Die Fahrradsaison kann also zumindest hier beginnen. Eine ähnliche Regelung trifft übrigens auch den Copy-Shop um die Ecke. Pakete und Postsendungen darf er annehmen, das gehört zur „kritischen Infrastruktur der Grundversorgung". Aber die Kopierer sind alle ausgeschaltet, auch darf man nicht an die Internetarbeitsplätze. Der Betreiber des Shops hat überlegt, gegen die Regelung mit den Internetarbeitsplätzen vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin zu klagen. Schließlich ist Internet „systemrelevant" und gehört auch zu Grundversorgung. Aber momentan hat er so viel mit den Paketen zu tun, dass er gar keine Zeit dazu hat. „Eines weiß ich, die Corona-Krise nutzt vor allem den Internet-Versendern, mein Paketumsatz hat sich seit Anfang März beinahe verdoppelt", erzählt der Mann mit Nachdenklichkeit in der Stimme. Auch die Einzelhandelsverbände bundesweit befürchten, dass die Corona-Krise das Ladensterben nicht nur in den Fußgängerzonen noch einmal anheizen wird.
Selbstorganisierte Überlebenshilfe
„Wo immer es möglich ist, soll auf Sozialkontakte verzichtet werden", brachte es die Kanzlerin auf den Punkt.
In der Whatsapp-Gruppe der Mietskaserne am Berliner Bundesplatz haben die Nutzer in den ersten zwei Wochen der Corona-Krise etwas ganz Elementares verinnerlicht. Social Media ist ganz toll, kann aber das unmittelbare soziale Leben nicht ersetzen. Was nützt es, etwas zu posten, wenn man es nicht gemeinsam erlebt hat. Das wirkliche Leben schreibt immer noch die schönsten Geschichten.