Nur mit ausländischen Pflegekräften lässt sich der künftige Bedarf nicht decken, weiß Thomas Eisenreich, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Betreuungsdienste. Eine mögliche Lösung sieht der Experte in einem Modell aus Japan.
Herr Eisenreich, mit ihrer Studie zum selbst verschuldeten Versorgungsnotstand üben Sie auch harsche Kritik an der Politik der letzten Jahre. Was wurde falsch gemacht?
Die Pflege ist komplett am tatsächlichen Bedarf vorbeigeplant worden. Die anstehenden Bedarfszahlen der Pflegebedürftigen sind viel zu niedrig angesetzt worden. Damit wurden dann auch in Folge die Zahlen der benötigten Pflegekräfte viel zu niedrig kalkuliert. Das heißt, wir haben bereits jetzt eine erhebliche Lücke bei den Pflegekräften, die in den kommenden zehn Jahren, einfach schon aufgrund der demografischen Entwicklung, da viele Kräfte in den Ruhestand gehen werden, noch weiter aufreißen wird. Dazu kommt, dass die Zahl der Pflegebedürftige erheblich steigen wird. Das heißt, das System fährt, wie wir das allerorten merken, bereits jetzt gegen die Wand. Das ist erst der Beginn einer Entwicklung, die sich in den kommenden zehn Jahren exponentiell verstärken wird: immer weniger Kräfte und immer mehr Pflegebedürftige.
Nun wurden in den letzten Jahren immer wieder Pflegereformen auf den Weg gebracht. Und auch jüngst ist eine neue Aufstellung in der Pflege vom Bundestag beschlossen worden. Ist das kein Lösungsansatz?
Das hilft nur alles nichts, wenn in der Politik, wie in der Vergangenheit, aber auch aktuell mit geschönten, also erheblich runtergerechneten Zahlen agiert und der Realzustand nicht anerkannt wird. Beispiel: Das Entlastungs- und Pflegeunterstützungsgesetz. Da wurde bei den Sachleistungen um fünf Prozent aufgestockt. Das deckt doch nicht mal die Inflation ab, also die wirkliche Preissteigerung im letzten Jahr. Die liegt ganz offiziell laut Statistischem Bundesamt doppelt so hoch. Das heißt, in der Pflege stehen bei der staatlichen Unterstützung jetzt mindestens fünf Prozent weniger Fördermittel zur Verfügung. In der Wirklichkeit ist das aber nur die halbe, vielleicht sogar nur die viertel Wahrheit. Denn die Kosten in der Pflege sind um 20 bis 30 Prozent gestiegen. Da sind die Energiekosten, die explodiert sind. Dazu kommt die Versorgung, zum Beispiel der zu Pflegenden. Auch hier sind die Kosten durch die Decke gegangen. Alles zusammen genommen, kommt da für mich eine Kürzung bei den Pflegeleistungen raus.
Sie als Geschäftsführer des Bundesverbandes der Betreuungsdienste schlagen in Anbetracht der Misere einen völlig neuen Weg in der Pflege vor. Mehr soziale Verantwortung von Älteren für Ältere?
Das ist das Prinzip: Mitmenschen, die raus aus dem Beruf sind und jetzt Rente beziehen, beklagen oftmals, dass sie gern noch etwas Sinnvolles tun wollen. Unser Vorschlag: Warum sollen nicht Ältere im Ruhestand aktiv die Pflegebedürftigen unterstützen? Das ist ein Modell, das ich in Japan kennengelernt habe. Dort gibt es so etwas wie Rente oder Ruhestand ja gar nicht in der Form, wie wir das kennen. Sondern die Menschen übernehmen nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Arbeitsleben dann gesellschaftliche, soziale Aufgaben und werden dabei vom japanischen Staat unterstützt. Das heißt: Sie regeln zum Beispiel den Verkehr an Baustellen, sichern den Schulweg von Kindern oder kümmern sich eben um Pflegebedürftige. Dieses Prinzip funktioniert in Japan seit Jahrzehnten und hat nicht nur einen großen, sozialen Aspekt, sondern ist auch eine Art Lebenshilfe für Menschen im Ruhestand.
Also in Würde alt werden durch gesellschaftliche Aufgaben, wodurch die Ruheständler auch weiter im Sozialgefüge stattfinden?
So kann man es beinahe schon wissenschaftlich ausdrücken, aber ganz praktisch heißt das: Gerade hier in Deutschland leben sehr viele alte Menschen allein, und diese Zahl wird in den kommenden zehn Jahren noch massiv weiter steigen. Die Babyboomer gehen jetzt nach und nach in den Ruhestand. Damit wird die Einsamkeit im Alter noch weiter zunehmen, wovor ja auch schon jetzt Soziologen warnen – denn Einsamkeit macht krank. Das ist unser Ansatz: Wenn diese Menschen weiter eine wichtige Aufgabe haben, dann fühlen sie sich auch gebraucht, haben in diesem Rahmen enge soziale Kontakte. Das ist psychisch ganz wichtig. Wer sich seelisch wohlfühlt, ist auch körperlich länger gesund. Vielleicht das Geheimnis, warum die Japaner mit durchschnittlich 81 Jahren die weltweit höchste Lebenserwartung haben.
Aber werden sich da nicht viele Ältere vielleicht auch überfordert fühlen?
Da habe ich mich etwas unklar ausgedrückt. Das heißt natürlich nicht, dass die Ruheständler jeden Tag für acht Stunden Aufgaben in der Altenpflege übernehmen sollen, sondern je nachdem, wie fit sie sich fühlen und wie viel Zeit sie investieren können. Also das Ganze soll nicht etwa ein sozialer Pflichtdienst für Ruheständler werden, sondern basiert absolut auf freiwilliger Basis. Hier geht es aber nicht nur um den gesellschaftlichen Hilfsauftrag für Menschen in der Pflege, sondern, das könnte auch ein Modell werden, um die drohende, zukünftige massiv zunehmende Altersarmut zu verhindern. Auch das ist ja ein Problem, dass auf uns zukommt.
Das heißt, Ruheständler, die zum Beispiel in der Pflege aushelfen, sollen dafür auch Geld bekommen?
Selbstverständlich, auch da steht wieder Japan Pate für unsere Idee. Menschen, die sich nach dem aktiven Ausscheiden aus dem Berufsleben noch für die Gesellschaft einbringen und sich vor allem um eine der drängendsten Aufgaben der Zukunft verdient machen, sollen dann auch die entsprechende Anerkennung bekommen und dafür auch bezahlt werden. Solche Aufgaben kann der Staat nicht ehrenamtlich bewältigen, auch wenn es die Politik in Stadt und Land am liebsten machen würde. Wer etwas leistet, soll dafür auch die entsprechende Anerkennung bekommen. Sonntagsreden und die Pflegespange in Gold für Ehrenamtliche helfen uns da nicht weiter.
Doch der Vorschlag Ihres Bundesverbandes der Betreuungsdienstleister würde Milliarden kosten.
Der anstehende demografische Sprung wird den Sozialsystemen ohnehin in den kommenden zehn Jahren zusätzliche Kosten in Milliardenhöhe bescheren. Viele Menschen gehen doch bereits mit 58, 60 Jahren in den Ruhestand. Das hängt auch damit zusammen, dass die Arbeitsverdichtung in den letzten Jahrzehnten immer enger geworden ist und die Menschen den Stress nicht mehr bis zum offiziellen Renteneintrittsalter schaffen. Schon jetzt landen viele von ihnen aufgrund der daraus resultierenden Rentenabschläge in der Grundsicherung. Und die Zahl derjenigen wird in den kommenden zehn Jahren noch weiter ansteigen. Das heißt, der Staat, also die sozialen Sicherungssysteme, werden hier einspringen müssen. Da macht es doch Sinn, wenn wir als Gemeinschaft dann Anreize schaffen, dass wir Menschen, die mit ihrer Rente allein nicht über die Runden kommen, eine Möglichkeit eröffnen, weiterhin finanziell für sich sorgen zu können. Obendrein übernehmen sie dann auch noch eine sinnvolle Aufgabe, die den Pflegebedürftigen hilft und die Personalknappheit vielleicht nicht überwindet, aber entzerrt. Damit wäre allen geholfen.
Kern Ihres Vorschlags zur nachhaltigen und generationengerechten Pflegereform ist also die Prävention auf zwei Ebenen?
Das ist der Punkt bei unserer Pflegereform: Prävention auf zwei Ebenen. Zum einen der Ruheständler als Pflegehelfer, welcher länger in der Gesellschaft aktiv verankert bleibt. Zum anderen die Pflegebedürftigen, die ihre eigene Versorgung solange es geht sicherstellen. Wenn ich jeden Tag das Essen vom Pflegedienst geliefert bekomme, dann bewege ich mich nur noch von der Couch zur Wohnungstür und dann zum Esstisch. Aber wenn ich selbst noch runterkomme und mit Unterstützung einkaufen gehe, dann werden doch die noch vorhandenen Fähigkeiten gefordert und bleiben damit weiter länger präsent. Das ist sozusagen ein kontinuierliches Alltags- und Alterstraining. Was dann zukünftig auch wieder Kosten spart, da die in Teilen pflegebedürftigen Menschen weiter halbwegs autonom mit Hilfe von außen leben können. Unsere Studie belegt diese Annahme. Sozusagen ein Fördern, aber auch ein bisschen Fordern für Pflegebedürftige.
Haben Sie da neben der Studie auch praktische Erfahrungen?
Ja. Wir haben da viele praktische Erfahrungen in dem Projekt gemacht. Da erinnere ich mich an Helfer, die in unsere Einrichtung gekommen sind, dort geholfen haben, solange es ging und dann selber Kunden ihres Pflege- oder Betreuungsdienstes geworden sind, dem sie immer geholfen haben.
Das gibt dann ein ganz anderes Gefühl auch für die Betroffenen selber, weil sie ja Teil dieser Pflegehilfe sind, sie kennen die Abläufe. Das ist dann für die Menschen ein gutes Gefühl. Ich will es nicht zu theatralisch ausdrücken, aber das ist für mich dann auch eine Form von in Würde altern. Der gegenseitige Respekt ist dann schon rein menschlich gegenseitig gewährleistet.
Ihr Vorschlag betrifft ja vor allem die häusliche Pflege, die in Zukunft immer mehr in den Mittelpunkt rücken wird. Einfach, weil es die vielen Heimplätze nicht geben wird, die zukünftig gebraucht werden. Allerdings ist das nur ein Baustein.
Selbstverständlich gibt es bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben in der Pflege kein Patentrezept. Wir müssen uns ehrlich machen: Nur mit der Anwerbung von ausländischen Pflegekräften werden wir die Aufgaben nicht lösen können. Das hat ja in der stationären Pflege schon nicht wirklich funktioniert. Aber auch allein mit Prävention werden wir nicht weiterkommen, sondern wir brauchen da ein Paket von Maßnahmen. Dazu kommt auch: Wir müssen den Menschen sagen, verlasst euch zukünftig nicht allein auf die professionelle Hilfe, sondern sorgt auch selbst in eurem Umfeld vor. Also bildet Netzwerke, oder besser Freundschaften in eurer Nachbarschaft. Sorgt dafür, dass der oder die eine auch auf den anderen achtet.
Inwieweit wird zukünftig die Digitalisierung in der Pflege eine Rolle spielen?
Eines vorweg: Der digitale Pflegeroboter wird in der häuslichen Pflege keine Rolle spielen, denn da geht es uns ja als Bundesverband Betreuungsdienste vor allem darum, den direkten menschlichen Kontakt zu unterstützen. Aber natürlich spielt die Digitalisierung im Netz eine wichtige Rolle und zwar schon heute, gerade für Menschen die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind. Da sind die virtuellen Gruppenangebote, in denen sich die Menschen austauschen können. Das sind natürlich die Social-Media-Plattformen. Aber viel wichtiger, und das hat gerade die Pandemie gezeigt, sind auch Spiele-Foren, wo zum Beispiel Canasta, Mensch ärgere dich nicht oder Monopoly gespielt wird. Dazu kommen aber auch virtuelle Museums- oder Konzertbesuche, die man auf einer Plattform gemeinsam erleben kann. Wir haben da sehr gute Erfahrungen in unseren Studien erleben dürfen. Ich erinnere mich an eine hochbetagte Dame, die aufgrund einer Operation ans Bett gefesselt war, aber sich trotzdem jeden Tag bei unseren medialen Angeboten angemeldet hat und soweit es ging, mitgemacht hat. Digitalisierung bei der direkten Versorgung wird in der häuslichen Pflege nicht funktionieren. Aber als Kontakt in die Außenwelt spielt sie bereits heute eine wichtige Rolle und wird sich noch weiter verstärken.