Vor wenigen Monaten trat das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz in Kraft. Was bringt die Reform und wer wird davon profitieren? Ein Überblick.
Seit die soziale Pflegeversicherung 1995 nach einer langen gesellschaftlichen Debatte zur Teilfinanzierung des Pflegerisikos eingeführt wurde, hat es immer wieder kleinere oder auch etwas größere Korrekturen gegeben. Diese wurden allesamt von der jeweiligen Opposition im Bundestag und den Medien als „Stückwerk“, „kleiner Wurf“ oder „Mogelpackung“ tituliert. Von daher war es wenig verwunderlich, dass die am 16. Juni vom Bundesrat gebilligte und daher ab dem 1. Juli 2023 gültige neuerliche Pflegereform, wieder reichlich Kritik erntete. Diese hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unter dem sperrigen Namen „Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz“ vorgelegt. Lauterbach selbst musste eingestehen, dass es sich um „kein perfektes Gesetz“ handele. Aber der Minister wollte sich seine Anstrengungen auch nicht ganz kleinreden lassen. „Das ist keine kleine Reform. Wir geben fast sieben Milliarden Euro mehr aus pro Jahr. Das ist eine Zunahme von etwa zwölf Prozent.“ Zudem sei das Gesetz „ein guter Kompromiss und wird noch einmal die Pflegekräfte zu Hause stärken“.
Selbst in Reihen der Ampel-Koalition hätte man sich einen größeren Wurf gewünscht, mit dem die desaströse Finanzlage in der sozialen Pflegeversicherung langfristig hätte stabilisiert werden können. Doch eine solch große Lösung war nicht Bestandteil des Koalitionsvertrages, hätte sicherlich reichlich Geld gekostet und wäre daher mit dem auf Haushaltskonsolidierung setzenden Finanzministerium unter FDP-Chef Christian Lindner nicht machbar gewesen. Der möchte sogar den erst 2022 von der damaligen Großen Koalition als Dauerhilfe beschlossenen Bundeszuschuss von jährlich einer Milliarde Euro für die Pflegeversicherung im Zuge der geplanten Haushaltssanierung für 2024 wieder abschaffen. Lauterbach selbst verwies darauf, dass die aktuelle Finanzsituation derzeit keinen größeren Spielraum zugelassen habe. Er arbeite aber daran, im kommenden Jahr Konzepte für eine grundlegende Finanzreform der Pflegeversicherung vorzulegen.
„Guter Kompromiss“
Der MDR sah denn auch in dem Gesetz kaum mehr als eine Notlösung, mit der die „Pflegeversicherung vorerst bis 2025 finanziell abgesichert werden“ solle. Auch die Verbraucherzentrale ließ nicht viel Gutes an dem Gesetz: „Von der ursprünglichen Idee, insbesondere Angehörige in der häuslichen Pflege zu unterstützen und zu entlasten und die Finanzierung der vollstationären Pflege neu zu regeln, ist nach vielen Beratungsrunden letztlich jedoch nur wenig übriggeblieben.“ Die „FAZ“, die von „Lauterbachs Stückwerk“ sprach, wies darauf hin, dass der konkrete Anlass für die Gesetzeskorrektur nur eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2022 gewesen war, wonach der Gesetzgeber bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung stärker den wirtschaftlichen Kindererziehungsaufwand berücksichtigen und entsprechende Anpassungen bis spätestens 31. Juli 2023 vornehmen musste. Statt dies als Chance für einen großen Wurf zu nutzen, habe Lauterbach, so die „FAZ“, aber wie all seine Vorgänger wieder einmal nur „notdürftig Löcher gestopft“ und sich leider „nicht an eine grundlegende Reform (inklusive Einsparungen) gewagt. Dabei ist lange absehbar, dass einschneidende Veränderungen dringend notwendig sind. Die Pflege braucht endlich einen großen Wurf.“
Diesem Fazit der „FAZ“ wird in der Politik und der breiten Öffentlichkeit jedermann zustimmen können, weil die Kosten in den vergangenen Jahren kräftig angestiegen sind. Laut Lauterbachs Angaben allein seit 2017 mit damals rund 35 Millionen Euro auf derzeit rund 60 Milliarden Euro. Das Problem und die Finanzierungslücke werden sich aufgrund des demografischen Wandels mit der Alterung der deutschen Gesellschaft weiter verschärfen. Schon im Jahr 2022 hatte sich das Defizit in den Kassen der gesetzlichen Pflegeversicherung auf 2,25 Milliarden Euro belaufen, für 2023 war ein Fehlbetrag von rund drei Milliarden Euro erwartet worden. Wesentliche Kostentreiber waren dabei die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen sowie die steigenden Ausgaben unter anderem durch die 2022 beschlossene vorgeschriebene Bezahlung der Pflegekräfte nach Tarif. Laut Prognose des Statistischen Bundesamtes wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2055 um mehr als ein Drittel ansteigen – auf dann rund 6,8 Millionen Menschen.
Ausgleich durch Steuermittel
Und laut Berechnungen zur Bevölkerungsentwicklung wird sich in Deutschland die Zahl älterer Personen jenseits der 67 Jahre bis zum Jahr 2040 auf knapp 21,5 Millionen erhöhen. Wobei ab dem 80. Lebensjahr die statistische Wahrscheinlichkeit rapide ansteigt, auf pflegerische Hilfe angewiesen zu sein.
Vor dem Hintergrund, dass die beitragsfinanzierte, obligatorische Pflegeversicherung, wie sie in der Bundesrepublik seit 1995 existiert, in kaum einem anderen Land Europas praktiziert wird, gibt es seit Jahren Diskussionen darüber, ob die Pflege nicht wie beispielsweise in den skandinavischen Ländern überwiegend aus Steuermitteln finanziert werden sollte. Laut einer aktuellen Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag der DAK-Gesundheit sind Dreiviertel der Bundesbürger der Meinung, dass zusätzliche Kosten der Pflege zukünftig auch durch Zuschüsse aus Steuern abgedeckt werden sollten. Die Alternative einer privaten Pflege-Zusatzversicherung wurde demnach von 70 Prozent der Befragten abgelehnt. Jüngst hatten sich Politiker aus den Reihen der CSU und der Grünen für die Verwendung von Steuermitteln für die Pflege starkgemacht. Auch aus der SPD waren Anfang 2023 Forderungen an Finanzminister Lindner herangetragen worden, Milliarden aus dem Bundessäckel zur Verfügung zu stellen, weil schon bis 2025 mit einem Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen auf 5,5 Millionen gerechnet werden müsse.
Schließlich hatten die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen im Schulterschluss mit den großen Sozialverbänden die Bundesregierung im Februar 2023 dazu aufgefordert, Defizite in der Pflegeversicherung durch Steuermittel auszugleichen. Weil wohl nur dadurch gewissermaßen die Quadratur des Kreises gelingen könnte. Denn wie anders könnte das laut dem GKV-Spitzenverband dauerhafte jährliche Defizit der Pflegeversicherung zwischen zwei und vier Milliarden Euro ausgeglichen werden? Mehr Leistungen, höhere Löhne in der Pflege, weniger Eigenanteil und keine extrem steigenden Versichertenbeiträge – das sind alles schöne Vorgaben, für deren Finanzierung allerdings bislang noch keine vernünftigen Vorschläge auf dem Tisch liegen. Außerdem wird infolge des demografischen Wandels die Zahl der Beitragszahler in die Rentenversicherung in naher Zukunft erheblich abnehmen. Und schon heute können viele Pflegebedürftige und deren Angehörige den derzeit im Schnitt bei 2.411 Euro liegenden Eigenanteil zu den Kosten für das erste Jahr in einer stationären Pflegeeinrichtung kaum mehr stemmen. Mit einer Durchschnittsrente lässt sich das beim besten Willen nicht finanzieren. Dieses riesige Problem, das immer mehr Heimbewohner zur Beantragung von Sozialhilfe zwingt, kann auch durch überschaubare Änderungen in der Pflegeversicherung nicht gelöst werden.
Um überhaupt mit dem neuen Gesetz, dessen Regelungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft treten, Verbesserungen in der Pflege auf den Weg bringen zu können, musste zunächst eine Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung zum 1. Juli 2023 dekretiert werden. Der allgemeine Beitragssatz wurde um 0,35 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent angehoben, was den Pflegekassen Mehreinnahmen von rund 6,6 Milliarden Euro im Jahr bescheren wird. Davon sollen vier Milliarden dafür genutzt werden, die Entlastungen für Pflegebedürftige und deren Angehörige zu finanzieren; mit dem Rest soll die Finanzlücke in der Pflegeversicherung erst einmal geschlossen werden. Eine Dauerlösung können ständige Beitragserhöhungen aber nicht sein. Selbst Lauterbach möchte damit nur die Finanzlage der Pflegekasse bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode stabilisieren: „Das jetzige System kann man nicht dauerhaft so weiter ausbauen, wie wir es jetzt gemacht haben. Es muss anders gemacht werden.“
Eigenanteil wird verringert
Allerdings wurde nicht nur der Beitragssatz geändert, sondern bei dessen Höhe auch das Faktum Kinder stärker berücksichtigt. Kinderlose müssen daher einen Beitrag von vier Prozent bezahlen, während der für ein Kind gültige Beitragssatz von 3,4 Prozent durch jedes weitere Kind um jeweils 0,25 Prozentpunkte gesenkt werden kann (bis zu maximal 2,4 Prozent für fünf oder mehr Kinder). Zeitgleich zum 1. Juli 2023 soll die Möglichkeit einer dauerhaften telefonischen Begutachtung zur Ermittlung eines Pflegegrades durch den Medizinischen Dienst oder einen anderen Gutachter überprüft werden. Zum 1. Oktober 2023 sollen die Regelungen des Verfahrens zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit und Einordnung des Pflegegrades übersichtlicher gestaltet werden.
Zum 1. Januar 2024 treten Bestimmungen in Kraft, die vor allem für Pflegebedürftige, die zu Hause betreut werden – was hierzulande immerhin auf aktuell vier von insgesamt fünf Millionen pflegebedürftige Menschen zutrifft – finanziell interessant sein dürften. Denn das Pflegegeld, das letztmals 2017 erhöht wurde, wird um fünf Prozent angehoben. Für Pflegegrad 5 beispielsweise gibt es dann 947 Euro pro Monat. Gleichfalls um fünf Prozent werden die sogenannten Pflegesachleistungen erhöht, aus denen beispielsweise ein Pflegedienst finanziert werden kann. Je nach Pflegegrad stehen dafür dann maximal 2.200 Euro pro Monat zur Verfügung. Zum 1. Januar 2025 sollen die Geld- und Sachleistungen nur noch um 4,5 Prozent angehoben werden und erst zum 1. Januar 2028 automatisch dynamisiert werden – unter Berücksichtigung der Inflationsentwicklung.
Ebenfalls zum 1. Januar 2024 wird der Anspruch auf das sogenannte Pflegeunterstützungsgeld ausgeweitet. Dabei handelt es sich um eine von der Pflegekasse übernommene Lohnersatzleistung, die bezahlt wird, wenn Menschen aufgrund der Pflege eines nahen Angehörigen kurzfristig nicht zur Arbeit gehen können. Bislang konnte ein solcher Anspruch in der Regel nur einmal je pflegebedürftiger Person geltend gemacht werden. Ab Januar 2024 kann diese finanzielle Unterstützung nun jährlich für bis zu zehn Arbeitstage je pflegebedürftiger Person beantragt werden. Ebenfalls ab 1. Januar 2024 werden für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5, die in vollstationären Pflegeeinrichtungen leben, die Leistungszuschläge der Pflegeversicherung zu den pflegebedingten Kosten erhöht. Dadurch verringert sich der Eigenanteil der Heimbewohner an den Kosten.
Die Höhe der monatlichen Zuschläge ist abhängig davon, wie lange der Pflegebedürftige schon im Heim wohnt. Bei einer Verweildauer von null bis zwölf Monaten erhöht sich der Leistungszuschlag von bisher fünf auf 15 Prozent. Bei einer Verweildauer von mehr als 36 Monaten von derzeit 70 auf künftig 75 Prozent.
Am meisten gerungen wurde in dem Gesetz um das sogenannte Entlastungs-Budget, bei dem zwei bisher getrennte Leistungen, nämlich Erstattungsbeträge für Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege, zusammengefügt und gewissermaßen gebündelt wurden. Das war durchaus sinnvoll, weil viele pflegende Angehörige bislang nur die Kurzzeitpflege mit einem Höchstbetrag von 1.774 Euro pro Jahr, oder die Verhinderungspflege mit einem Höchstbetrag von 1.612 Euro pro Jahr in Anspruch genommen hatten. Somit hatten sie auf einen Teil der möglichen Leistungen verzichtet. Künftig, genauer gesagt ab dem 1. Juli 2025, können Pflegebedürftige und ihre Angehörigen die Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege flexibel kombinieren und Leistungen im Umfang von maximal 3.539 Euro unbürokratisch nutzen.
Digitalisierung der Pflege
Bei einer Kurzzeitpflege können häuslich betreute Pflegebedürftige kurzzeitig in einer Pflegeeinrichtung untergebracht werden, wenn die Angehörigen beispielsweise einmal Urlaub machen oder sich mal etwas von der durch die Pflegearbeit bedingten Anstrengung erholen möchten. Bei der Verhinderungspflege können sich Angehörige beispielsweise durch die Verpflichtung eines Pflegedienstes zu Hause vorübergehend vertreten lassen, wenn sie mal eine Auszeit benötigen oder auch durch eigene Krankheit verhindert sein sollten. Das neue Gesetz sieht vor, dass der Anspruch auf Verhinderungspflege von sechs auf acht Wochen verlängert und die bisherige Voraussetzung einer sechsmonatigen Vorpflegezeit vor erstmaliger Inanspruchnahme der Verhinderungspflege ersatzlos gestrichen wird. Stattdessen können die Leistungen unmittelbar nach Feststellung von mindestens Pflegegrad 2 genutzt werden. Eltern von pflegebedürftigen Kindern und jungen Erwachsenen bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres mit Pflegegrad 4 oder 5 können das Entlastungs-Budget schon ab dem 1. Januar 2024 in Anspruch nehmen, allerdings zunächst nur in Höhe von maximal 3.386 Euro, ab dem 1. Juli 2025 dann aber auch in Höhe von maximal 3.539 Euro. Ab 1. Juli 2024 sollen einer pflegebedürftigen Person die Kosten eines Aufenthalts in einer stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung ersetzt werden, falls für die Pflegeperson der gleichzeitige Besuch dieser ambulanten oder vollstationären Einrichtung nötig sein sollte.
Vielleicht auch noch erwähnenswert ist, dass das neue Gesetz hohe Erwartungen in die Digitalisierung der Pflege setzt, wofür ein entsprechendes Kompetenzzentrum aufgebaut werden soll. Zudem soll das Förderprogramm für digitale und technische Anschaffungen in Pflegeeinrichtungen mit einem bisherigen Volumen von rund 300 Millionen Euro ausgeweitet und bis zum Ende des aktuellen Jahrzehnts verlängert werden. Schließlich soll nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums der Personalmangel in der stationären Pflege durch eine beschleunigte Umsetzung des sogenannten Personalbemessungsverfahrens bekämpft werden. Dieses gibt Auskunft darüber, wie viele Pflegekräfte und mit welcher Qualifikation in einer Pflegeeinrichtung arbeiten sollten. Zudem soll zusätzliches Personal in Springerpools künftig regelhaft finanziert werden, um das Stammpersonal zu entlasten und die Notwendigkeit von teurer Leiharbeit zu reduzieren. „Um zugleich wirtschaftliche Anreize für Leiharbeitsunternehmen zu verringern“, so das Bundesgesundheitsministerium, „und die Gelder der solidarischen Pflegeversicherung vorrangig für Pflegebedürftige und Pflegepersonal einzusetzen, können zukünftig Kosten für Leiharbeit in der Regel nur bis zur Höhe entsprechender Tariflöhne aus der Pflegevergütung finanziert werden.“