Seit über zehn Jahren predigt die Politik, Deutschland müsse die dringend benötigten Pflegekräfte vor allem im Ausland rekrutieren. Bislang mit mäßigem Erfolg. Doch es gibt auch positive Ausnahmen – wie in Berlin-Wedding.
Diesen Augenblick wird Sunshine Arino in ihrem Leben nie vergessen. Es war am 16. Januar 2019. Nach einem 16-stündigen Flug landet die 25-Jährige auf dem damaligen Hauptstadtflughafen Tegel. Als die zierliche Frau den Flughafen verlässt, steht sie plötzlich mitten im Schneetreiben. „Das war der erste Schnee, den ich in meinem Leben gesehen habe“, erzählt sie begeistert. „Ich fand das toll.“ An jenem Tag kam die junge Philippinerin gerade aus Manila und hatte eine fast zwei Jahre lange Job-Odyssee hinter sich. Ihr zukünftiger Arbeitgeber, das Evangelische Geriatriezentrum Berlin (EGZB), hatte alles perfekt für die Ankunft der neuen Mitarbeiterin vorbereitet. Selbstverständlich wurde sie an jenem Morgen in Tegel von der Pflegedirektorin Elvira Haynes persönlich abgeholt. Auch für Haynes ist der besagte Morgen Mitte Januar ein besonderer Tag. Hinter ihr liegt allerdings keine Reise – sondern eine wahre Ämter-Odyssee, um die erste philippinische Pflegekraft für ihr Krankenhaus vom Flughafen auch tatsächlich abholen zu dürfen. Elvira Haynes hat in über 40 Jahren gelernt, dass es oftmals um ganz Alltägliches geht. Vorsorglich packte sie eine dicke Daunenjacke für Sunshine ein. „Darauf kommt es auch im Pflegejob immer an: praktisch denken“, erzählt die Pflegedirektorin und lächelt. „Wenn uns in Deutschland gesagt wird, dass auf den Philippinen über 40 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit vorherrschen, dann wissen wir zwar, was damit gemeint ist, aber ein genaues Bild, wie sich das anfühlt, können wir uns nicht machen.“ Umgekehrt hat man auch Sunshine erklärt, dass es in Deutschland sehr kalt und verschneit sein wird, aber auch sie wusste nicht wirklich, was da auf sie zukommt und war etwas zu sommerlich gekleidet. Doch bis die Daunenjacke Mitte Januar 2019 überhaupt zum Einsatz kommen konnte, bedurfte es einer zweijährigen Vorbereitungszeit. Es war ein sehr bürokratischer und damit steiniger Weg. Auf der beinahe anderen Seite des Erdballs musste Sunshine viele persönliche Strapazen auf sich nehmen, damit sie in Deutschland als Pflegekraft arbeiten kann. Den ersten Schritt machte aber das Geriatriezentrum.
Wie in vielen Krankenhäusern deutschlandweit wurde der Druck durch fehlende Pflegekräfte auch im EGZB in Wedding im Sommer 2017 immer deutlicher spürbar. Die Politik redete zwar seit Jahren von den Pflegefachkräften, die da aus dem Ausland geholt werden müssten. Doch die Gesetzeslage steht einer schnellen Rekrutierung dieser dringend benötigen Fachkräfte, damals wie heute, weiterhin eher im Weg, als diese zu fördern.
Bis das nun vom Bundestag verabschiedete Fachkräfteeinwanderungsgesetz tatsächlich durchgreifend wirkt, wird es vermutlich noch einige Jahre dauern. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat zwar vorgelegt, doch andere Bundesministerien müssen nun umgehend inhaltlich nachlegen. Fachkräfteeinwanderung betrifft eben nicht nur einen Ministerialbereich im Bund, ganz abgesehen von den diesbezüglichen Länderkompetenzen.
Anwerbungen vor Ort ausloten
Im Geriatriezentrum entschließt sich Pflegechefin Haynes dazu, einen eigenen Weg zu gehen und beauftragt ihren zuständigen Bereichsleiter, die Möglichkeiten der Anwerbung direkt vor Ort auszuloten. Beide können zu diesem Zeitpunkt nicht ansatzweise ahnen, worauf sie sich da einlassen. „Für mich war klar: Wir brauchen vor Ort auf den Philippinen einen Rekruter. Also einen Mitarbeiter, der zum Beispiel in Manila die Kontakte hat, die Sprache kann und für uns eine personelle Vorauswahl trifft, also für uns die Leute überhaupt erst mal sucht“, so Michael Mehner, Bereichsleiter Pflege. „Anders geht es nicht, dort wurde die Vorauswahl getroffen und das war der richtige Weg. Wir hier in Deutschland haben doch gar keine Chance, deren Qualifikation, beispielsweise per Skype-Interview, zu beurteilen. Vielmehr muss das vor Ort, in deren Heimatland, geschehen.“
Der Erfolg ist beachtlich. Das Projekt wurde in dem Evangelischen Krankenhaus Mitte 2017 ins Leben gerufen. In nicht mal sechs Jahren hat alleine die Geriatrische Klinik 30 Pflegekräfte von den Philippinen gewinnen können. Eine Quote, von denen ganze Bundesländer mit ähnlichen Projekten nur träumen. Für Mehner spielt bei diesem Erfolg aber auch der christliche Glaube eine Rolle. Der Inselstaat im Pazifischen Ozean ist protestantisch geprägt. „Die Menschen dort sind sehr gläubig und fühlen sich dann hier in der Diakonie sehr wohl.“ Die kleine Kirche auf dem Klinik-Campus ist am Sonntagmorgen seit den Neuanwerbungen wieder gut besucht. Ein Beispiel, das Mehner immer im Kopf hängen bleiben wird: „Unsere philippinischen Mitarbeiter baten alle für einen Samstag-Vormittag um dienstfrei. Ich habe mich gewundert, bis ich darauf gekommen bin, dass eine Taufe ansteht. Natürlich haben wir dienstfrei für die Taufe im Dienstplan hinbekommen.“
Eine von den Anwesenden bei der Tauf-Zeremonie vor zwei Jahren ist Belinda Cenit. Die 35-Jährige ist ein halbes Jahr später als ihre Kollegin Sunshine in Berlin eingetroffen, beide haben sich beim Deutsch-Kurs in Manila kennengelernt und angefreundet. „Als ich Sunshine hier wiedergetroffen habe, war das für mich schon fast ein Stück Heimat, ich war hier nicht ganz allein.“ Das ist das Konzept von Pflegedienstdirektorin Haynes. „Auf jeder Station bei uns in der Klinik sollten immer zwei Personen sein, die den gleichen geo-sozio-kulturellen Hintergrund haben, dann können sich beide gegenseitig, zum Beispiel bei sprachlichen Schwierigkeiten, unterstützen“, so Pflegechefin Haynes. Doch während die 29-jährige Sunshine noch alleinstehend ist und ihre Eltern vermisst, hat ihre Freundin Belinda ein weitaus größeres persönliches Päckchen zu tragen. Die 35-Jährige ist verheiratet und hat ihre zwei Kinder 10.000 Kilometer entfernt zurücklassen müssen. Eine für sie sehr schwere Entscheidung, aber die wirtschaftliche Lage in ihrer Heimat ließ ihr keine andere Wahl.
10.000 Kilometer von der Familie entfernt
„Meine eigentliche Idee war, dass ich hierher komme und dann meinen Mann und die Kinder nachhole. Aber das ist gar nicht so einfach. Ich suche jetzt schon lange eine Wohnung für uns in Berlin, aber die sind nicht bezahlbar.“ Darum hat sich für Belinda die Idee des Familiennachzugs erstmal zerschlagen, was rein rechtlich unproblematisch möglich gewesen wäre. Damit stellt sich für die verheiratete Mutter eines elf- und eines vierzehnjährigen Sohnes die Frage, wie lange sie den Pflegeberuf in Deutschland noch machen wird. „Damit ich den Kontakt zu meiner Familie nicht verliere, skypen wir jeden Tag. Aber das heißt für mich, aufgrund der Zeitverschiebung von acht Stunden, dass ich immer in der Nacht wach sein muss, um mit meinem Mann und den Kindern sprechen zu können.“ Konkret: Wenn sie aus der Spätschicht gegen 23 Uhr kommt, dann ist es Frühstückszeit auf den Philippinen, Belinda kann ihren Kindern noch einen schönen Schultag wünschen. Vor dem Dienstbeginn am Mittag kann sie den Tag mit ihrem Mann besprechen, er ist dann schon lange im Feierabend. Bereichsleiter Mehnert versucht diese Besonderheit in den Dienstplänen zu berücksichtigen, „damit unsere philippinischen Kolleginnen ein bisschen ihre privaten Kontakte in ihrer Heimat pflegen können, wenn auch per Skype“.
Die Frage erhebt sich, wie lange man eine Fernbeziehung mit zwei Kindern über 10.000 Kilometer Entfernung durchhalten kann. Belinda ist zuversichtlich, dies die nächsten drei oder vier Jahre noch hinzubekommen. „Ich war gerade während des letzten Weihnachtsfestes wieder zu Hause und glaube, meine Kinder haben begriffen, dass es wichtig ist, dass ihre Mama so weit weg arbeitet. Schließlich muss auch ihre Schulbildung bezahlt werden.“ Es fällt auf, wie schwer es für sie ist, darüber überhaupt zu sprechen. Sie pflegt in Deutschland Menschen, die es brauchen und kann sich deshalb um ihre eigenen Kinder nicht genügend kümmern, die ihre Pflege und Aufmerksamkeit nicht weniger verdienen. Für jede Mutter die härteste Entscheidung, die man treffen kann. Oder muss. Um das zukünftige Fortkommen der eigenen Kinder irgendwie abzusichern, damit sie in ihrem zukünftigen Leben selbst nicht so eine Entscheidung treffen müssen.