Ohne Paul Carroll und Robert Kromm müssen sich die Berlin Recycling Volleys neu erfinden. „Mister BRV" Kaweh Niroomand steht vor seiner vielleicht größten Bewährungsprobe.
Vor dem fünften Spiel der Finalserie um die deutsche Volleyball-Meisterschaft dachte jedermann: Das wird ganz eng. Berlin hatte die beiden ersten Matches einfach gewonnen, der VfB Friedrichshafen kam aber nervenstark und genauso überzeugend zurück. Reality Check: Man kann Spiel fünf auch noch verlieren! Nicht umsonst waren die Häfler die gesamte Bundesliga-Saison hindurch ungeschlagen geblieben. Nur in den Champions-League-Play-offs und eben im Bundesliga-Finale gegen die BR Volleys fingen sich die Männer vom Bodensee ihre einzigen Niederlagen ein. Friedrichshafen war also in einer starken Position. Und die ZF-Arena endlich einmal mit 4.000 Zuschauern ausverkauft. Am Bodensee ist man erfolgsverwöhnt.
Und dennoch: Die beiden letzten Meistertitel hatten die BR Volleys eingesammelt. Jeweils gegen den VfB Friedrichshafen. In der Höhle des Löwen. In der letzten Saison gegen starken Widerstand kämpfend, denn Berlin sah gegen die Spieler von Vital Heynen damals absolut kein Land und verlor alle Matches gegen sie teils chancenlos, drehte aber dann, als es um alles ging, im Finale, den Spieß um. Und wurde Meister.
Aber in dieser Saison? Eigentlich zeigt sich das gleiche Bild. Berlin traf auf Friedrichshafen im Supercup, in der Bundesliga und sogar in der Champions League. Ausbeute: Zero. Alle Spiele gingen verloren. Und nicht nur gegen den Erzrivalen aus dem Süden Deutschlands stotterte der Motor.
Ein Blick zurück: Zu Saisonbeginn hatte BRV-Chef Kaweh Niroomand die Weichen auf Verjüngung und Experimentieren gesetzt. Der junge Australier Luke Reynolds wurde Chefcoach in Berlin. Doch während der Saison warteten Management, Fans und auch die Spieler selbst vergeblich auf die Stabilisierung der Berliner Performance. Es mangelte mitunter am Zusammenspiel, die Annahme wackelte ein ums andere Mal. Verunsicherung brach sich Bahn. Gelegenheit für einen Trainer, sich auszuzeichnen und das Schiff auf Kurs zu bringen.
Volleys planen künftig mehr mit Deutschen
Nach dem Pokal-Aus gegen Herrsching wurde Reynolds angezählt. Nach dem glatten 0:3 bei Lüneburg im Februar hatte Niroomand genug und verpflichtete statt Reynolds seinen alten Rivalen Stelian Moculescu als Trainer. Der brachte sofort wieder Zug in die Truppe, gab klare Ansagen, ging aber auch auf jeden Spieler einzeln ein. Auch Stars konnten sich ihres Platzes nicht sicher sein. Robert Kromm und Paul Carroll fanden sich ungewohnt öfter auf der Bank wieder. Statt ihrer spielten Adam
White und Kyle Russell. Und die nahmen die Herausforderung an, entschieden mitunter Spiele fast im Alleingang. Friedrichshafen als Erster und Berlin als Zweiter marschierten durch ihre Play-off-Serien. Doch nun ging es ins entscheidende Match: „Do or die". Risiko oder Sicherheit? Aber statt einem Match, so eng, dass es knirscht … Einbahnstraßen-Volleyball. Die BR Volleys lieferten „das beste Match der ganzen Saison" (Carroll) ab und ließen Friedrichshafen keine Chance. Dazu sagte Stelian Moculescu, stolz auf seine Spieler: „Am Ende haben sie angefangen, mir zu glauben, was ich da erzähle". Das 0:3 in Spiel fünf in eigener Halle traf die Häfler sicher tief. Den Berlinern konnte es egal sein. Sie warfen ihren Meistertrainer in die Luft, spritzten mit Schampus herum, rutschten auf den Sektlachen übers Parkett wie kleine Kinder. Tags drauf war die Feier der sechsten Meisterschaft in sieben Jahren im VIP-Raum der Max-Schmeling-Halle gewohnt schön, der Kontakt mit den Fans innig. Doch diesmal schwebte über der Veranstaltung die Gewissheit, dass eine große Ära zumindest einen Schlag einstecken musste, vielleicht sogar zu Ende geht. Denn nach sieben Jahren im Dienste der BR Volleys verlässt Diagonalangreifer Paul Carroll den Club in Richtung Krasnojarsk. Er sucht noch einmal eine neue Herausforderung. Bei der Kälte in Russland spielt auch das erheblich größere Gehalt eine verständliche Hauptrolle. Da kann der Niroomand-Club immer noch nicht mithalten. Wenn es so wenige Planstellen auf der ganzen Welt für Profi-Volleyballer gibt, muss man die Chance nutzen, seine Zukunft und die seiner Familie zu sichern. Der Markt ist eben viel kleiner als zum Beispiel im Basketball. Der nächste Schock: Robert Kromm hört auf. Ganz. Ab sofort. Das nächste Kind ist im Anmarsch, und wie Kromm selbst sagt, haben seine Frau und seine Kinder schon sehr lange viel Geduld mit ihm gehabt. Außerdem, gibt er weiter zu, bemerkte man in der abgelaufenen Saison bei ihm schon einen gewissen Leistungsabfall. Nicht umsonst habe er so oft die Bank gedrückt. Und er wolle auf einem noch hohen Niveau aufhören. Sechs Jahre war er, der nach seinen Anfängen beim VC Olympia unter anderem in Italien brilliert hatte, der Star der BR Volleys, ja der Liga auf Annahme und Außen. 2016 noch zum Volleyballer des Jahres gekürt, jetzt sozusagen auf Rente. Beide werden Gründungsmitglieder der neuen BRV Hall of Fame. Die weiteren vier sind Jaroslav Škach (Zuspieler 2003-2012), Scott Touzinsky (Annahme/Außen 2010-2015), Aleksandar Spirovski (Diagonalangreifer 2003-2015) und Felix Fischer (Mittelblocker 2003-2009, 2010-2017).
Weitere Abgänge: Der in der Saison nachverpflichtete Zuspieler Pierre Pujol geht zurück nach Ajaccio auf Korsika. Libero Luke Perry wechselt zu Asseco Resovia Rzeszów nach Polen. In die gleiche Liga, nach Warschau, zieht es Mittelblocker Graham Vigrass. Ob Steven Marshall und Aleksandar Okolic bleiben, ist zweifelhaft. Und nicht zuletzt: Stelian Moculescu hört nun wirklich endgültig als Trainer auf. Er hatte noch zwei Ziele gehabt: in Berlin zu arbeiten und gegen Friedrichshafen den Titel zu gewinnen. Dort hatte man ihm vor zwei Jahren ja eher unfein den Abschied sehr nahegelegt. Den Berlinern aber werde er „in der einen oder anderen Weise, vielleicht als Berater" verbunden bleiben. Oder als Sportdirektor? Der Posten ist seit dem Abgang von Roko Sikirić vor zwei Jahren vakant. Seitdem arbeitet für den Geschäftsführer Kaweh Niroomand wieder der Manager Kaweh Niroomand. Ersterer, so sagt er selbst, hätte allen Grund gehabt, Letzteren während der Spielzeit zu feuern. Gut, dass er es nicht getan hat, denn die Idee mit Moculescu war sein überraschender Triumph, die Wende zum Titel. Und nun stehen wieder fordernde Zeiten an. Die ersten Neuzugänge gibt es schon: Jan Zimmermann (25, zuletzt Poitiers/Frankreich, früher Rhein-Main und Friedrichshafen) teilt sich mit Sebastian Kühner die Zuspielerposition. Moritz Reichert (23, jüngst mit Tours französischer Meister, früher Rhein-Main und Friedrichshafen) wird der Nachfolger von Robert Kromm: „Kaweh hat gesagt, dass er mit den BR Volleys zukünftig mehr auf deutsche Spieler setzen will, das hat mir gefallen". Und vielleicht hat geholfen, dass auch der Trainer von Tours, Cédric Énard (42) vor dem Absprung nach Berlin stehen soll. Das wäre ein Coup für die BR Volleys und gäbe dem Manager Niroomand – und Moculescu? – ein Faustpfand für die Verpflichtung weiterer Klassespieler. Zur Zufriedenheit des Geschäftsführers. Und der Fans in der Hauptstadt. Am 28. Oktober stehen sich Meister Berlin und Pokalsieger Friedrichshafen das nächste Mal gegenüber – in Hannover beim Supercup zum Start der Saison 2018/19. Die Rivalität geht weiter.