Den Briten und der EU läuft bei den Brexit-Gesprächen die Zeit davon.
Die Brexit-Verhandlungen gleichen zwei Zügen, die mit vollem Tempo aufeinander zurasen. Die britische Regierung und die EU haben sich zu sechs Gesprächsrunden getroffen – doch in entscheidenden Fragen gibt es keinen Fortschritt. Tatsache ist: Die grundlegenden Streitpunkte sind bis dato nicht gelöst. Das gilt für die Schlussrechnung der Briten, die in Brüssel auf 60 bis 100 Milliarden Euro beziffert wird, wie auch für die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien oder die Regelung der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Der vereinbarte Brexit-Fahrplan ist damit vom Tisch, der geordnete EU-Austritt bis Ende März 2019 kaum noch zu schaffen.
Nun hat der genervte EU-Unterhändler Michel Barnier seinem britischen Gegenüber David Davis eine Frist gesetzt: Bis zum 24. November müsse London Zugeständnisse machen. Andernfalls könne sich der EU-Gipfel im Dezember nicht den zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen der Gemeinschaft und Großbritannien widmen. Ursprünglich wollte man sich bereits im Oktober über die wichtigsten Themen einig sein.
Die Brexit-Gespräche standen von Beginn an unter keinem guten Stern. Die 27 übrig gebliebenen EU-Staaten waren enttäuscht, dass die Briten im Referendum vom Juni 2016 der Gemeinschaft den Rücken gekehrt haben. Die Regierung in London hingegen berauschte sich an der eigenen Traumtänzerei. Allein sei Großbritannien stärker, mächtiger und wirtschaftlich noch erfolgreicher als im Korsett der EU-Autokraten, fabulierte die britische Premierministerin Theresa May.
Der Hochmut auf der Insel kannte keine Grenzen. May gab immer wieder die „eiserne Lady“ und drohte mit einem „harten Brexit“: Ein ungeordneter EU-Austritt schade vor allem der Gemeinschaft, stichelte sie. Der britische Verhandlungsführer saß seinem EU-Gesprächspartner manchmal genüsslich-lächelnd gegenüber, ohne eine einzige Akte auf den Tisch zu legen. „Wir sind in einer starken Position – ihr müsst uns entgegenkommen“, lautete die provozierende Botschaft.
Diese Marschroute stellt sich nun als Luftnummer heraus. Zwar hat Theresa May mittlerweile die Tonlage geändert. So warb sie bei ihrer Rede in Florenz im September für eine zweijährige Übergangsphase, um den zeitlichen Druck aus den Verhandlungen zu nehmen. Doch EU-Emissäre berichten immer wieder, dass die britische Regierung den Ernst der Lage nicht begriffen habe.
Die Briten haben sich mit ihrem Kalkül verzockt, die Kostenfrage erst dann zu regeln, wenn die zukünftigen Handelsbeziehungen geklärt sind. Es ist wie im richtigen Leben: Eine einvernehmliche Scheidung setzt voraus, dass sich die Akteure zuvor auf die finanziellen Belastungen verständigt haben. Für billige Triumphgefühle auf EU-Seite gibt es dennoch keinen Anlass. Ja, es stimmt: Premierministerin May ist schwer angeschlagen, sie steckt in einer machtpolitischen Sandwich-Position. Dem gemäßigten Teil ihrer konservativen Partei ist sie nicht geschmeidig genug. Den hartgesottenen Brexit-Befürwortern um Außenminister Boris Johnson ist sie zu weich.
Das ändert nichts daran: Die Briten und die EU wären Verlierer, wenn es zu einem chaotischen Brexit käme. Das Kabinett May wäre allerdings besonders hart getroffen. Die britischen Unternehmen müssten beim Handel mit EU-Ländern Zölle bezahlen, was ihre Produkte verteuert. Etliche ausländische Firmen würden aufs europäische Festland abwandern, um den dortigen Markt besser bedienen zu können. Das Gleiche gilt für Banken in der Finanzmetropole London.
Aber auch die deutsche Wirtschaft würde leiden. Immerhin ist das Vereinigte Königreich nach den USA und Frankreich das drittwichtigste Exportland. Waren und Dienstleistungen, die bislang ein Gesamtvolumen von mehr als 120 Milliarden Euro pro Jahr aufwiesen, wären mit dem Bremsklotz von Zöllen und Abgaben belegt. Allein in Deutschland hängen rund 750.000 Arbeitsplätze an den Ausfuhren nach Großbritannien.
Die Brexit-Verhandlungen sind zu einer gefährlichen Hängepartie geworden. Es wäre zu wünschen, dass beide Seiten ihre Gespräche vom Ende her denken. Vor allem der Regierung in London läuft die Zeit davon. Den Briten, die für ihren Pragmatismus bekannt sind, sollte langsam dämmern, dass die Illusion von einem rosaroten EU-Ausstieg mit einem bitteren Erwachen enden könnte.