Der Sozialverband VdK fordert Verbesserungen für die Pflege als Konsequenz aus den Pandemie-Erfahrungen. Der saarländische Vorsitzende Armin Lang über Pflegebonus, Tests und Schutzstrategien.
Herr Lang, die Politik hat einen Pflegebonus beschlossen als Anerkennung für die Leistungen der Pflege in der Krise. Ein wichtiger Schritt, um Pflegeberufen die schon lange geforderte Anerkennung zu zeigen?
Der Pflegebonus ist hochpeinlich. Ich gönne den Pflegekräften das zusätzliche Geld. Sie haben es längst verdient. Notwendig ist jedoch eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitssituation in der Pflege. Wir brauchen sichere Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen und ein Gehalt, von dem die Pflegekräfte auch mit Familie leben können. Wer anderen Menschen in existenziellen Nöten helfen soll, muss selbst in einer sicheren Existenz leben. Nur dann kann der Helfende wirklich alles geben. Die Diskussion über die „Leiden" der Pflege finde ich dennoch gut, weil sie den Finger in die Wunden legt. Die Pflegekräfte sind gut beraten, jetzt noch mehr selbst aktiv zu werden. Sie müssen sich endlich gewerkschaftlich organisieren. Nur gemeinsam können sie ihre Ziele erreichen.
Warum ist das so?
Die Pflege hat, wie alle soziale Arbeit, eine lange Tradition. Sie entspringt der christlichen Nächstenliebe. Über Jahrhunderte war „dienen" die Prämisse, nicht „bezahltes Arbeiten". Dies galt ganz besonders für die helfenden Berufe. Und helfen kann jeder. Das Bewusstsein, dass Pflege eine professionelle Tätigkeit ist, entwickelte sich nur mühsam. In dieser Tradition gründet auch die Distanz der Pflegeakteure zur offensiven und organisierten Vertretung ihrer Interessen. Professionelle Arbeit in der Pflege ist mehr als gute Pflege am Bett. Dazu gehört auch, Strukturen mitzugestalten, öffentliches Bewusstsein zu beeinflussen und berechtigte Anliegen auf allen Ebenen zu vertreten. Mir ist bewusst: Diese Berufe stehen stets unter einem besonderen Stress. Sie haben den Kopf nicht frei für politische Aktivitäten. Deshalb muss Aus-, Fort- und Weiterbildung dieses breitere berufliche Selbstverständnis beinhalten.
Hat die Politik die Bedeutung des Themas Pflege unterschätzt?
Es ist viel passiert in den letzten Jahren. So viel positive Gesetzgebung für die Pflege wie in den letzten fünf Jahren hatten wir vorher nicht in drei Jahrzehnten. Es bewegt sich was. Die öffentliche, auch politische, Sensibilität steigt. Im letzten Bundestagswahlkampf schaffte es ein junger Fachkrankenpfleger in einer öffentlichen Veranstaltung mit wenigen treffenden Sätzen, die Bundeskanzlerin so auf die Probleme der Pflege hinzuweisen, dass danach alle Medien darüber berichteten. Die Problematik war plötzlich öffentlich so präsent, dass die Zukunft der Pflege „Top-Thema" im Wahlkampf und dann auch in der Koalitionsvereinbarung wurde. Die durchaus positiven Veränderungen in den letzten Jahren sind die aktuell wahrnehmbaren Ergebnisse. Auch die Widersacher in der Gesellschaft bezüglich einer sachgerechten Pflegefinanzierung halten sich derzeit zurück. Die Pflegebeiträge sind in den letzten vier Jahren massiv gestiegen – ganz ohne öffentliche Diskussion. Ich war bei der Einführung der Pflegeversicherung Anfang der 90er-Jahre im letzten Jahrhundert schon dabei. In der Diskussion wurde damals insbesondere von den Arbeitgebern der Eindruck vermittelt, dass nach Einführung der Pflegeversicherung die deutsche Wirtschaft komplett zusammenbricht. Die Arbeitnehmer wurden durch die Abschaffung des Buß- und Bettages zur Mehrarbeit ohne Lohnausgleich verpflichtet. Und die deutsche Wirtschaft wuchs trotz Pflegebeitrag seither erheblich. Wir blieben lange Zeit „Exportweltmeister", sogar bei einem zwischenzeitlich fast dreimal so hohen Beitrag. Die Pflege sichert nicht nur eine weniger angstbesetzte Existenz der Betroffenen und ihre Lebensqualität, sondern auch die der Angehörigen. Sie trägt zur ökonomischen Wertschöpfung bei, schafft Arbeitsplätze und ist zwischenzeitlich nachgefragter regionaler Standortfaktor. Eine stabile und verlässliche Pflege hat Systemrelevanz. Sie erinnert uns daran: Auch wir können pflegedürftig werden, und wir wollen dann eine menschliche aber auch eine professionelle Hilfe. Die Zeit ist günstig, die jetzt noch virulenten und die neu erkannten Probleme der Pflege anzugehen.
Was zum Beispiel?
Wenn aktuell über Pflegereformen geredet wird, geht es in der Regel um Veränderungen bei der Pflegeversicherung. Da ist auch viel zu tun. Die Reform der Pflege ist aber mehr! Wie viele Menschen in einer Region ins Pflegeheim müssen, hängt zum Beispiel ganz wesentlich damit zusammen, wie viele barrierefreie, auch mit technischen Hilfen ausgestattete Wohnungen vorhanden sind, die selbstbestimmtes und unabhängiges Wohnen und Leben auch mit Handicaps ermöglichen. Dafür ist die Pflegeversicherung nicht zuständig. Dies ist vorrangig eine kommunale Aufgabe. Auch dies ist Pflegepolitik.
Aktuell werden mehr schwer kranke und pflegebedürftige Menschen in ihren Wohnungen gepflegt als in allen Seniorenheimen und Krankenhäusern zusammen. Bei einer älter werdenden Bevölkerung wird deshalb die eigene Wohnung als „Gesundheitsstandort" immer wichtiger. Die Wohnbedingungen müssen so sein, dass auch dort ordentlich gepflegt werden kann ohne zusätzliche Belastungen und Risiken für die Pflegenden und die Gepflegten. Der VdK hat bereits sehr viel dazu beigetragen dass auch Investitionen in den „Pflege- und Gesundheitsstandort Wohnung" als Teil der sozialen Wohnraumförderung angesehen wird. Wir haben derzeit in der Pflege eine gute Zeit für Reformen, deshalb müssen wir jetzt auch solche Themen angehen. Und ganz besonders wichtig ist, die Lasten der Pflegekosten neu zu verteilen: Wir brauchen endlich eine wirklich Pflegeversicherung, mit der die Risiken der Pflegekosten auch tatsächlich von der Versicherung übernommen werden und der Pflegebedürftige nur seine durch die externe Unterbringung eingetretenen häuslichen Ersparnisse als Selbstbeteiligung einbringt.
Was lässt sich zusätzlich zu den bekannten Baustellen im Pflegebereich als Erkenntnis aus den Corona-Erfahrungen gewinnen?
In den letzten Monaten wurde bewusst: In der Krise versorgen Gefährdete besonders Gefährdete. Viele hochbetagte Menschen werden von ihren ebenfalls schon älter gewordenen Kindern gepflegt. Auch in der ambulanten Pflege und in den stationären Einrichtungen sind nicht nur junge Menschen tätig. Da sind vielfältige Schutzmaßnahmen dringend geboten, aber keinesfalls Isolation! Auch Befähigungen sind nötig. Wir brauchen passgenaues Testen in regelmäßigen Abständen. Mir konnte noch niemand nachvollziehbar erklären, warum alle Mitarbeiter und Pflegebedürftigen in Heimen im Saarland getestet wurden, aber nicht alle ambulanten Pflegedienste mit ihren Kunden und deren Umfeld. Vielleicht schreckt die große Zahl ab. Sie darf aber den Blick auf den dringenden Bedarf nicht verstellen. Die ambulant Pflegenden gehen von Haus zu Haus und tragen das Infektionsrisiko immer mit. Schutzmaßnamen müssen für alle „Pflege-Orte" gelten. Die Risiken für Pflegehaushalte sind aufgrund der fehlenden professionellen Distanz in der Regel höher. Deshalb muss für die Zukunft gelten: Wir müssen alle Hilfesuchenden gleichbehandeln. Es darf keine Unterschiede geben.
Das erfordert hohen Aufwand, verursacht Kosten.
Wenn wir so handeln, dann haben wir andere Probleme mitgelöst. Dann müssen die Kurzzeit- und die Tagespflege nicht geschlossen werden, dann sinkt bei der Aufnahme Pflegebedürftiger in stationären Einrichtungen und in Kliniken das Infektionsrisiko.
Die Schließung der Tagespflege hatte ja offenbar weitreichendere Konsequenzen, als man zunächst gesehen hat. Das wäre damit zu verhindern?
Sie hat tatsächlich noch andere Probleme offengelegt. Die Tagespflege strukturiert nicht nur dem Pflegebedürftigen den Tag, vermittelt soziale Kontakte und Lebensfreude. Sie dient auch dazu, dass Angehörige entlastet werden, tagsüber beruflich tätig sein oder sich um die eigenen Kinder kümmern können. Die Schließung bewirkte in vielen Familien eine massive Überforderung. Deshalb: Wenn die Schließung derartiger Einrichtungen unumgänglich ist oder der Gesundheitszustand des Pflegebedürftigen den Transport beziehungsweise die außerhäusliche Versorgung nicht zulässt, muss es eine „tagespflegerische Alternative" in der eigenen Wohnung geben. Die Corona-Krise hat diesbezüglich auch kreativ gewirkt. Es gab einige Krankenkassen, die eine mobile Tagespflege ermöglicht haben. Aus dieser Notmaßnahme muss in der Zukunft bei entsprechender Begründung ein Regelanspruch werden.
Die Schließung von Heimen und Einrichtungen hat gravierende Folgen gehabt, Stichwort Isolation. Welche Konsequenzen sind zu ziehen?
Das größte Problem gerade für ältere und behinderte Menschen war ihre totale Isolation. Dies darf es zukünftig nicht mehr geben. Deshalb fordert der Sozialverband VdK Saarland: Alle stationären Pflege- und Behinderten-Einrichtungen müssen digital so ausgestattet werden, dass die Bewohner auch mittels Videochat und so weiter mit ihren Angehörigen in Kontakt bleiben können. Alle Pflegeheim-Zimmer müssen entsprechend ausgestattet werden und mit den Bewohnern ist die Nutzung dieser technischen Hilfen zu üben. Es gibt bereits viele Senioren, die mit ihren Enkeln per Skype Kontakt halten. Wenn sie es noch nicht können, dann müssen sie dazu befähigt und dabei unterstützt werden. Die Beschaffung dieser Infrastruktur ist eine gemeinwohlorientierte Investition. Sie muss aus Steuermitteln finanziert werden.
Der Paragraf 9 SGB XI verpflichtet die Länder, sich entsprechend zu engagieren. Zukünftig muss gelten: Wir müssen schützen, dürfen aber nicht isolieren.