Die Corona-Pandemie verlangt den Pflegekräften viel ab. Chantal Ostermann, Initiatorin und Leiterin des Vereins „proud to care" plädiert für Wertschätzung, bessere Arbeitsbedingungen und einen flächendeckenden Tarifvertrag.
Frau Ostermann, schon vor der Pandemie kämpften Pflegekräfte mit gigantischen Herausforderungen. Corona hat diese Lage noch weiter verschärft. Als Leiterin des bundesweiten und trägerübergreifenden Vereins „proud to care" bekommen Sie sicherlich viele Rückmeldungen. Wie steht es um unsere Pflegekräfte?
Die Pflegenden und Ärzte haben im vergangenen Jahr so viel geleistet und miterlebt wie keine andere Berufsgruppe. Nicht selten kam es vor, dass ein Großteil der Kollegen in Quarantäne geschickt wurde, sodass drei Pflegende die Arbeit von zehn übernehmen mussten. Auch psychisch ist die Corona-Pandemie eine extrem hohe Belastung, wenn die eigenen Patienten und Bewohner von einem Tag auf den anderen versterben.
Auf den Corona-Stationen herrscht immer noch Ausnahmezustand und die Pflegenden fühlen sich von der Politik und Gesellschaft hierbei nicht genug unterstützt.
Andererseits hört man von vielen Pflegenden aber auch, dass einem in der Pflege schon immer viel abverlangt wurde, deshalb ist es auch kein Job für jedermann, und dass man dies trotzdem gern in Kauf nimmt, um seiner Berufung nachzugehen, anderen Menschen zu helfen und beizustehen. Man ist eben proud to care.
Sie sagen, die aktuelle Situation bringt viele Pflegekräfte an ihre körperlichen und geistigen Erschöpfungsgrenzen. Der Weltverband der Pflegekräfte warnt gar vor einem „Massenexodus aus dem Beruf." Lässt sich diese Entwicklung überhaupt noch stoppen?
Ich finde den Ausdruck Massenexodus schon sehr extrem, und für die Altenpflege kann ich dies nicht bestätigen. In Senioreneinrichtungen hat sich die Corona-Situation durch die Impfungen Gott sei Dank maßgeblich beruhigt, und langsam, aber sicher kehrt wieder Normalität ein. Selbstverständlich gibt es auch hier noch einen gewissen Mehraufwand durch Testungen und besonders strenge Hygienemaßnahmen, aber diese bleiben unabdingbar zum kontinuierlichen Schutz der Mitarbeiter und Bewohner.
In den Krankenhäusern ist dies sicherlich etwas anders, und vor allem auf den Corona-Stationen stoßen die Pflegekräfte nach wie vor täglich für uns an ihre Grenzen. Hier sollte jeder einzelne an seine Verantwortung denken, das Gesundheitssystem und unsere Pflegenden zu entlasten, indem man sich nach wie vor an die Regeln hält, so schwer es auch ist und sich zur Impfung anmeldet, was zeitnah für alle möglich sein wird. Wenn nicht für einen selbst, dann für die, die jeden Tag im Krankenhaus für das Leben anderer kämpfen.
Laut einem Gutachten der Universität Bremen fehlen alleine in der Altenpflege über 120.000 Pflegekräfte. Wie könnte man Fachkräfte generieren?
Das größte Potenzial sehe ich nach wie vor darin, junge Leute nach ihrem Schulabschluss für eine Ausbildung oder ein Studium in der Pflege zu begeistern. Seit 2020 gibt es einen neuen primärqualifizierenden und praxisorientierten Studiengang Pflege, bei dem in dreieinhalb Jahren sowohl die Qualifizierung als Pflegefachmann/Pflegefachfrau als auch der Bachelor erworben wird. Damit stehen den Absolventen alle Türen offen für einen Einstieg in die Pflegepraxis, die Entwicklung zur Führungskraft oder weitere wissenschaftliche Wegen mit Studium zum Master oder Doktor. Auch als Grundlage für ein anschließendes Medizinstudium ist dieser Studiengang perfekt geeignet.
Ebenso sollten Quereinsteiger angesprochen werden, gerade jetzt, wo so viele durch die Pandemie ihren Beruf verloren haben oder aufgeben mussten und einen zukunftssicheren Beruf mit Sinn suchen.
Hierzu sind wir auch schon mit der Arbeitsagentur eng im Austausch, um eine bundesweite Aktion mit mehreren Trägern aus der Gesundheitsbranche zu starten.
Selbstverständlich ist es auch wichtig, weiter an den Rahmenbedingungen zu arbeiten, wie die Durchsetzung eines flächendeckenden Tarifvertrags.
Die bundesweite Ausweitung des Tarifvertrags Pflege – für den Sie sich auch ausgesprochen haben – hätte eine Erleichterung bringen können. Doch Ende Februar platze auch diese Hoffnung, als sich die katholische Caritas dagegen ausgesprochen hat. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich gerade die Mehrheit innerhalb der kirchlichen Träger nicht für den Tarifvertrag ausgesprochen hat. Das geht für mich persönlich nicht mit den Werten der Kirche einher, und ich finde es auch sehr schade, dass die Diakonie sich in dieser Thematik zurückgezogen hat. Aber hierbei ist es mir wichtig zu betonen, dass man dies auch nicht ganz so pauschalisieren kann, da es auch sehr viele innerhalb der Caritas und Diakonie gibt, die den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag unterstützen würden.
Deshalb geben wir auch nicht auf und werden mit dem neuen Arbeitgeberverband und „proud to care" nach wie vor alles daran setzen, die Caritas und Diakonie noch einmal umzustimmen, denn nur gemeinsam können wir unser Gesundheitswesen langfristig sicherstellen und dem Pflegeberuf die Wertschätzung zukommen lassen, die er verdient.
Können Sie das näher erklären?
Der Mindestlohn, der von den Bundesministern als Alternative angestrebt wird, hat leider allein vom Wording absolut nichts mit Wertschätzung und Aufwertung des Pflegeberufs zu tun und ist schlichtweg nicht ausreichend.
Ebenso ist die Variante, dass alle Träger ihren eigenen Tarifvertrag basteln, nicht zufriedenstellend. Wir wollen eine konzertierte Aktion für die Pflege, dann sollten wir uns alle für den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag einsetzen.
Mit dem erst kürzlich in Kraft getretenen Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) möchte Gesundheitsminister Jens Spahn die Lage verbessern. So sollen beispielweise in der vollstationären Altenpflege 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte finanziert werden. Bringt das eine Erleichterung?
Ich bin sehr dankbar für das Engagement von Herrn Spahn und sehe dies eindeutig als Erleichterung.
Allerdings muss man wissen, dass es mittlerweile auch nicht einfach ist Pflegehilfskräfte zu finden. Dabei verdient man hier vergleichsweise gutes Geld, mit dem Tarifvertrag wären es sogar 14,50 Euro pro Stunde und benötigt zum Einstieg nur einen sechswöchigen Pflegebasiskurs. Zudem ist es ein wirklich schöner Beruf, wenn man die Nähe zu Menschen schätzt.
Es gibt beispielsweise auch viele internationale Bewerber, mit denen diese Stellen besetzt werden könnten. Häufig sind deren Deutschkenntnisse noch nicht ausreichend für die komplexe generalistische Ausbildung. Gerne würden wir diese zunächst zu Pflegehelfern ausbilden, und wenn sie etwas Erfahrung gesammelt haben und ihre Sprachkenntnisse gut entwickelt haben, dann in die Ausbildung senden.
Leider steht unsere Gruppe von Vietnamesen, mit denen wir dies umsetzen wollten, nun kurz davor, abgeschoben zu werden, da man für einen Beruf als Pflegekraft aktuell in den meisten Bundesländern kein Visum beziehungsweise keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhält. Dies ist für mich absolut nicht nachvollziehbar.
Jeder der uns in der Pflege unterstützen will, egal ob aus der EU, aus Drittstaaten, als Flüchtling oder Asylant sollte mit offenen Armen und rotem Teppich empfangen werden!
Das ist eine weitere Aufgabenstellung, die ich gerne unserer Regierung mitgeben möchte.
Im vergangenen Jahr startet die neue generalistische Ausbildung. Wird der neue Bildungsweg gerne angenommen? Welche Rückmeldungen bekommen Sie?
Nach meinen Erkenntnissen gab es in diesem Jahr so viele Bewerber auf die Ausbildung wie noch nie und auch mehr Bewerber mit Abitur, was sehr erfreulich ist. Ich denke, dass die generalistische Ausbildung mit ihren sehr vielfältigen Möglichkeiten und medizinischer Orientierung sehr attraktiv geworden ist. Allerdings bedeutet auch der erhöhte Schwierigkeitsgrad der neuen Ausbildung, dass einige die Ausbildung bereits abbrechen mussten. Ich hoffe, dass für diese Gruppe von der Politik noch eine Zwischenstufe geschaffen wird.
Der Verein „proud to care" leistet aktive Hilfe und informiert beispielweise über den Stand der Pandemie und gibt wertvolle Informationen zu den einzelnen Impfstoff-Varianten. Was wird noch gemacht, um die Pflegekräfte zu entlasten?
Zum Thema Entlastung beschäftigten wir uns aktuell mit verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten durch Digitalisierung und arbeiten an einem Konzept für ein komplett digitales Heim. Hierbei geht es darum, Prozesse, die nicht mit der direkten Pflege zusammenhängen, zu automatisieren, sodass die Pflegenden mehr Zeit für das Wesentliche gewinnen, also die zwischenmenschliche Arbeit mit den Bewohnern und Patienten.
Das zweite zentrale Thema ist die Förderung von Ausbildung, Weiterbildung und Akademisierung. Hier sind wir nach wie vor tatkräftig mit AzubiWeb in der Entwicklung unserer Lern- und Kommunikations-App für die generalistische Ausbildung und eines „proud to care"-Pflegebasiskurses und möchten über das neue primärqualifizierende Pflege-Studium informieren. Und abschließend ist das größte Ziel der „proud to care"-Initiative selbstverständlich immer noch mehr Menschen für diesen Beruf zu begeistern, was im Endeffekt den größten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen, Entlastung und Zufriedenheit der Pflegenden haben wird. Also kommt in die Pflege!
Sind aufgrund der Pandemie bestimmte, geplante Projekte des Vereins liegen geblieben?
Natürlich hat die Pandemie auch für uns ein paar Themen auf Eis gelegt. Wir sollten bei großen Kongressen und Veranstaltungen, wie dem deutschen Zukunftspreis, die „proud to care"-Initiative der Politik und Öffentlichkeit präsentieren. Wir hatten diverse Großveranstaltungen zum Tag der Pflege geplant. Ich hoffe, dass derartige Veranstaltungen im Herbst nachgeholt werden können. Auch die Akquise neuer Mitglieder und Unterstützer für unseren Verein haben wir pausiert, da bei den Trägern einfach die langfristige Pandemie-Bekämpfung nach wie vor die volle Aufmerksamkeit abverlangt. Aber wir werden nun zeitnah mit der Arbeitsagentur und weiteren großen Trägern an verschiedenen Standorten gemeinsame Aktionen für die Akquise von Menschen für das Gesundheitswesen starten.
Was ist alternativ zum Tag der Pflege geplant?
Große gemeinsame Veranstaltungen können ja leider nach wie vor nicht stattfinden. Ich weiß aber, dass viele unserer Mitgliedsresidenzen schöne kleinere Aktionen geplant haben im Rahmen der aktuellen Möglichkeiten mit Geschenken, Essen, Reden und guter Stimmung. Nächstes Jahr werden wir dafür aber richtig Gas geben.
Im Herbst steht die Bundestagswahl an. Was wünschen Sie sich seitens der Politik?
Mein größter Wunsch an die Politik ist, dass der flächendeckende Tarifvertrag noch vor der Bundestagswahl umgesetzt wird. Dann mehr Zeit für unsere Pflegenden für die individuelle Betreuung der Bewohner und Patienten. Das GPVG von Herrn Spahn ist sicherlich ein guter erster Schritt dorthin.
Ein weiteres zentrales Thema ist bezahlbarer Wohnraum für Pflegende zu schaffen und anzubieten, insbesondere in den Städten. Dies trägt maßgeblich zur Gewinnung und Bindung von Pflegenden bei und wird von internationalen Mitarbeitern besonders dringend benötigt.
In diesem Zusammenhang wünsche ich mir auch eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und Entbürokratisierung für jeden, der bei uns in Deutschland in der Pflege beziehungsweise im Gesundheitswesen mit seiner Arbeitskraft unterstützen möchte.
Um die Akademisierung voranzutreiben, muss von der Regierung die Finanzierung der Pflege-Studierenden künftig geklärt und idealerweise in den Ausbildungsfond integriert werden, sodass diese nicht benachteiligt werden, sondern ebenso wie die Auszubildenden vergütet werden können.
Mit Blick in die Zukunft: Wie wird sich Pflege in den kommenden Jahren verändern?
Zum einen wird die Digitalisierung sicherlich ein zentrales Thema werden. Damit meine ich weniger Robotik, sondern eher Softwarelösungen, die Prozesse, Kommunikation, Dienstplangestaltung, medizinische Überwachung und so weiter maßgeblich verbessern und vereinfachen werden. Zudem wird sich sicherlich auch konzeptionell einiges tun. Die Bedürfnisse der Menschen verändern sich genauso wie die Krankheitsbilder. Zum anderen wird die Akademisierung sowohl die Pflegepraxis als auch das Image dieses Berufs in Deutschland sicher noch mal einen deutlichen Schritt voranbringen. Ich denke jedoch auch, dass wir künftig leider damit rechnen müssen, dass Pandemien wie Corona vermehrt zu unserem Alltag gehören werden. Aber was auch immer die Zukunft für uns bereithält, in der Pflege haben wir noch alles gemeistert und sind stärker rausgekommen als zuvor.